Lagebild Ukraine Das sind die beiden neuen Schwerpunkte in Putins Taktik

Philipp Dahm

10.4.2024

Wladimir Putin besucht am 7. Januar in Moskau einen Gottesdienst.
Wladimir Putin besucht am 7. Januar in Moskau einen Gottesdienst.
Imago/Zuma Wire

Wladimir Putin konzentriert seine Truppen im Donbass: Westlich von Kreminna und westlich von Bachmut liegen die neuen Schwerpunkte seiner Armee. Er setzt dabei auf bekannte Taktik, ist aber unter Zeitdruck.

P. Dahm

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Der kuriose russische «Schildkrötenpanzer» wird zerstört, kaum dass er erstmals entdeckt wurde – wegen Social Media.
  • Terny ist neben Tschassiw Jar einer der beiden neuen Schwerpunkte der russischen Armee.
  • Du erfährst auch, warum – und wie es danach weitergehen könnte und wie die Verteidigung aussieht.
  • Putin steht unter Zeitdruck: Bald erschweren Schlamm und Nachschub an Munition für Kiew russische Vorstösse.
  • Gerade in Tschassiw Jar setzt Russland auf Gleitbomben, die für die Verteidiger mehr und mehr zum Problem werden.

Natürlich wird auf der ganzen Breite der Front gekämpft – von Kupjansk im Norden bis nach Krynky am linken, östlichen Ufer des Dnipro. Doch Wladimir Putin hat seiner Armee zwei Schwerpunkte verordnet, die im zentralen Donbass liegen.

Den Auftakt macht jedoch eine Episode aus Krasnohoriwka, das 16 Kilometer westlich von Donezk liegt. Dort rückt eine mechanisierte Kolonne der russischen Armee vor. Eine ukrainische Drohne filmt nicht nur, wie der Vormarsch durch Artilleriefeuer unterbunden wird, sondern auch etwas Sonderbares: den «Schildkrötenpanzer».

Der «Schildkröten-Panzer» nahe Krasohoriwka auf einem Video der ukrainischen Streitkräfte vom 9. April.
Der «Schildkröten-Panzer» nahe Krasohoriwka auf einem Video der ukrainischen Streitkräfte vom 9. April.
Youtube/Video Militarnyi News

Dieser T-72 ist mit einem Stahlmantel gegen Drohnenangriffe umhüllt, doch dadurch nicht mehr in der Lage, den Turm zu drehen. Vorne ist ein Minenpflug montiert, der wohl der Grund für den experimentellen Schutzkasten ist, der Unheil aus der Luft abwehren soll. «The War Zone» berichtet am 8. April über das «bizarre» Konstrukt.

Allein: Nur einen Tag später ist der «Turtle Tank» zerstört. Nicht durch eine Drohne, was zu viel der Ironie wäre. Schuld ist allerdings ein russischer Soldat, der ein Video von sich und dem Schildkrötenpanzer online stellt, das geolokalisiert wird. Die ukrainische Artillerie erledigt den Rest.

Terny: Comeback des mechanisierten Angriffs

Wie viel Wert Moskau auf die Abwehr ukrainischer Drohnen legt, zeigt sich beim Dorf Terny, das einen der beiden Schwerpunkte des Kreml ist. Seit Wochen versucht die russische Armee, das Dorf zu erobern. Vor einigen Tagen ist dort nicht nur eine russische Kolonne aufgerieben worden. Es wurden auch führende Panzer erobert.

Der ist mit gleich mehreren Drohnenabwehrgeräten versehen, die auf eine Palette gezurrt und mit einem externen Generator betrieben worden sind. Die Technik wird nun von Kiews Kräften untersucht – auch wenn sie nicht besonders wirksam gewesen zu sein scheint, wie obiges Video nahelegt.

In Terny setzen die Russen auf eine Taktik, die schon als überholt abgetan wurde: massive mechanisierte Angriffe. Welle und Welle an gepanzerten Fahrzeugen und Panzern schlägt den ukrainischen Verteidigern in den letzten Tagen entgegen, die aus mindestens sechs verschiedenen Einheiten der ukrainischen Armee zusammengestellt sind.

Warum Terny?

Die Angreifer kämpfen mit mehreren Problemen: Sie haben in dem Sektor laut Reporting from Ukraine zu wenig eigene Artillerie, müssen durch offenes Gelände anfahren und sind in den Flanken nicht gedeckt. Die gegnerische Artillerie und Drohnenpiloten haben leichtes Spiel, während Minen zu weitere Verluste führen.

Terny liegt zwar relativ tief am Fluss Scherebets, doch an dessen anderer Uferseite steigt das Gelände wieder an: So lässt sich das Dorf gut verteidigen.
Terny liegt zwar relativ tief am Fluss Scherebets, doch an dessen anderer Uferseite steigt das Gelände wieder an: So lässt sich das Dorf gut verteidigen.
Youtube/Reporting from Ukraine

Dass Putin ungerührt Einheit um Einheit vorrücken lässt, erklärt das Institute for the Study of War mit Zeitdruck: Zum einen beginne der nasse Frühling, der die Felder matschig und für mechanisierte Kräfte kaum passierbar macht. Zum anderen wolle der Kreml ausnutzen, dass Kiew zu wenig Artilleriemunition hat, solange dem noch so ist.

Potenzielle russische Marschwege: Von Terny (A) geht es weiter nach Lyman (B) und Slowjansk D), aber auch ein Abstecher nach Isjum (C) wäre denkbar.
Potenzielle russische Marschwege: Von Terny (A) geht es weiter nach Lyman (B) und Slowjansk D), aber auch ein Abstecher nach Isjum (C) wäre denkbar.
DeepStateMap/phi

Was würde Moskau gewinnen, wenn Terny (A im obigen Bild) fiele? Wenn sich ein Weg über den Scherebets auftut, ist Lyman (B) das nächste Ziel. Die Stadt ist ein Verkehrsknotenpunkt und eröffnet den Weg nach Nordwesten Richtung Isjum (C), das strategisch ungünstig im Rücken von Charkiw liegt. Wahrscheinlicher wäre jedoch eine Bewegung Richtung Slowjansk (D), das mit Kramatorsk eine Schlüsselrolle für die Verteidigung der Region spielt.

Tschassiw Jar – das neue Awdijiwka

Noch mehr Effort steckt der Kreml jedoch in seinen zweiten Schwerpunkt: die Schlacht um Tschassiw Jar, das verspricht, das neue Bachmut oder das neue Awdijiwka zu werden. Sprich: Es gibt eine stark befestigte Stadt, die von den russischen Angreifern umstandslos dem Boden gleichgemacht wird, um sie einzunehmen.

Die Ausgangslage: Tschassiw Jar liegt erhöht hinter einem Kanal. Nach Osten hin dienen zudem ein Quartier hinter dem Kanal, Minengürtel, kleine Wälder und die Dörfer Bohdanivka im Nordosten sowie Ivanivske im Südosten als Schutz, doch die beiden Ortschaften sind bereits umkämpft und dürften bald fallen.

Diese Karte von Reporting from Ukraine zeigt anschaulich die Verteidigungslinie von Tschassiw Jar: Gekämpft wird östlich des Kanals (blaue Linie) in (von Nord nach Süd) Bohdanivka, einem vorgelagerten Stadtteil von Tschassiw Jar und Ivanivska. Weiter östlich liegt das eroberte Bachmut.
Diese Karte von Reporting from Ukraine zeigt anschaulich die Verteidigungslinie von Tschassiw Jar: Gekämpft wird östlich des Kanals (blaue Linie) in (von Nord nach Süd) Bohdanivka, einem vorgelagerten Stadtteil von Tschassiw Jar und Ivanivska. Weiter östlich liegt das eroberte Bachmut.
YouTube/Reporting from Ukraine

Auffällig ist sowohl in Tschassiw Jar als auch in Terny, dass es Russland offenbar an fahrtüchtigen Schützenpanzern und gepanzerten Fahrzeugen fehlt, um die Infanterie zu transportieren. Das Resultat sind Videos, die Panzer zeigen, auf denen 25 und mehr Soldaten hocken, bevor sie auf eine Mine fahrenvon einer Drohne oder Granate getroffen werden.

Warum Tschassiw Jar? Und wie?

Auch Tschassiw Jar (A im unteren Bild) ist ein Verkehrsknotenpunkt: Hinter dem Kanal könnte die russische Armee sich der Stadt Konstjantyniwka (B) im Südwesten zuwenden, die vor dem Krieg 70'000 Bewohner zählte, oder nach Kramatorsk ziehen, das, wie bereits erwähnt, mit Slowjansk eine Schlüsselrolle in der Region spielt.

Von Tschassiw Jar (A) aus bieten sich Konstjantyniwka (B) oder Kramatorsk (C) als nächste Ziele an.
Von Tschassiw Jar (A) aus bieten sich Konstjantyniwka (B) oder Kramatorsk (C) als nächste Ziele an.
DeepStateMap/phi

Sollten sowohl der Vorstoss über Terny nach Lyman erfolgreich sein als auch Tschassiw Jar fallen, könnte der Kreml Slowjansk und Kramatorsk, zwischen denen nur sechs Kilometer liegen, sogar in die Zange nehmen. Weil die Verteidigungslinie gerade in Tschassiw Jar so stark ist, setzt Moskau dort deshalb auch die schwere Brechstange ein: schwere Gleitbomben.

Es handelt sich um sowjetische Bomben mit 250, 500 oder 1'500 Kilogramm Sprengstoff, die zu Gleitbomben aufgerüstet und in einiger Entfernung von der Front abgeworfen werden. Sie sind zwar nicht so präzise wie ihre westlichen Verwandten, hinterlassen aber dennoch grosse Schäden in weitem Umkreis und zerstören die schützende Infrastruktur von Städten. Sie explodieren über dem Boden und töten durch Hitze und Druck.

Der Nachteil ist die dezentrale Befehlskette der russischen Armee: Wird Luftunterstützung angefordert, kann es angeblich bis zu vier Stunden dauern, bis der Einsatz genehmigt und angeordnet ist. Bei Tschassiw Jar hat das dazu geführt, dass eigene Truppen nachgerückt sind – und dann von der eigenen Luftwaffe bombardiert wurden – siehe oben.