Kolumne Die Frau mit dem Kompass zum Glück

Von Caroline Fink

11.9.2022

Die Kolumnistin fotografierte Nicole Niquille jüngst, als sie in einem Schlitten – gezogen von 16 Bergsteigerinnen – den Gipfel des 4'164 Meter hohen Breithorns erreichte.
Die Kolumnistin fotografierte Nicole Niquille jüngst, als sie in einem Schlitten – gezogen von 16 Bergsteigerinnen – den Gipfel des 4'164 Meter hohen Breithorns erreichte.
Bild: Caroline Fink

Menschen wie Nicole Niquille, die erste Bergführerin der Schweiz, regen zum Nachdenken an. Seit 28 Jahren im Rollstuhl erhielt sie jüngst den Anerkennungspreis der Schweizer Paraplegiker-Stiftung. Ein persönlicher Blick auf eine aussergewöhnliche Frau.

Von Caroline Fink

Manchmal sagt jemand einen Satz, der uns fortan für immer begleitet.

Vielleicht werden wir lange darüber nachdenken, basierend darauf etwas Mutiges entscheiden oder auf neue Erkenntnisse stossen. Die Person, die den Satz sagte, weiss meist nichts davon. Weil sie uns nur flüchtig – oder gar nicht – kennt.

Fällt Ihnen auch so jemand ein?

Für mich ist eine solche Person Nicole Niquille, die 1986 zur ersten Bergführerin der Schweiz wurde.

Strahlend, fröhlich und mit hellwachen Augen

Ich erinnere mich genau, wie ich im Juni 2011 im fribourgischen Dorf Charmey an der Tür ihres Landhauses klingelte, um sie zu interviewen. Ich war aufgeregt.

Zur Autorin: Caroline Fink
Bild: Gaudenz Danuser

Caroline Fink ist Fotografin, Autorin und Filmemacherin. Selbst Bergsteigerin, mit einem Flair für Reisen abseits üblicher Pfade, greift sie in ihren Arbeiten Themen auf, die ihr während Streifzügen in den Alpen, den Bergen der Welt und auf Reisen begegnen. Denn von einem ist sie überzeugt: Nur, was einen selbst bewegt, hat die Kraft, andere zu inspirieren.

Nicht, weil Nicole Niquille bekannt ist, sondern weil man nicht alle Tage jemandem begegnet, dessen Leben solch eine Wende genommen hat wie das ihre: Im Jahr 1994 fiel ihr beim Pilzesammeln ein Stein in der Grösse einer Walnuss auf den Kopf; sie erlitt Verletzungen im motorischen Teil des Gehirns. Seither lebt sie im Rollstuhl.

Meine Anspannung aber verflog, als Nicole Niquille die Tür öffnete – strahlend, fröhlich, mit wildem Blondschopf und hellwachen Augen.

Ich erinnere mich, wie sie mir einen halben Tag lang aus ihrem Leben erzählte. Aus ihrer Jugend, von ihren Bergabenteuern, von Expeditionen im Himalaja und: von ihrem Unfall.

«Die Leute wissen ja gar nicht, von was allem ich träume»

Sie erzählte mir all das, ohne zu fragen, wer ich war und woher ich kam.

Sie wusste einzig, dass ich an einem Buch über Pionierinnen in Fels und Eis arbeitete. Ich war beeindruckt von ihrer Souveränität und Herzenswärme. Und von ihrer Schaffenskraft.

Rasch merkte ich: Nicole Niquille ist ein Mensch, der Stroh in Gold verwandelt. Als hätte sie einen integrierten Kompass, der immer in Richtung Glück zeigt.

In den letzten Jahren kreuzten sich unsere Wege immer wieder. Und mehrmals durfte ich ihre Geschichte in Büchern, Zeitschriften und Zeitungen publizieren.

Nicole Niquille ist ein Mensch, der Stroh in Gold verwandelt. Als hätte sie einen integrierten Kompass, der immer in Richtung Glück zeigt.
Nicole Niquille ist ein Mensch, der Stroh in Gold verwandelt. Als hätte sie einen integrierten Kompass, der immer in Richtung Glück zeigt.
Bild: Caroline Fink

Ich erzählte von ihren Erfolgen: dass sie nach ihrem Unfall ein Bergrestaurant führte, ein Spital im nepalesischen Lukla gründete, als Base Camp Manager weiterhin im Himalaja arbeitete. Und ich fotografierte sie jüngst, als sie in einem Schlitten – gezogen von 16 Bergsteigerinnen – den Gipfel des 4'164 Meter hohen Breithorns erreichte.

Einer ihrer Sätze aber beeindruckte mich besonders. Ein Satz, an den sie selbst sich vielleicht gar nicht mehr erinnert. Es war auf einem gemeinsamen Podium, als sie sagte:

Oft meinten Menschen, sie würde sich einfach all ihre Träume erfüllen. «Aber wissen Sie», fügte sie dann an, «die meisten Leute wissen ja gar nicht, von was allem ich träume.»

In diesem Moment verstand ich: Von aussen sehen wir nur den Erfolg. Was misslingt, bleibt meist verborgen. Was im Reich der Träume bleibt ebenfalls.

Menschen nie mehr nur an ihren Erfolgen messen

Je länger ich darüber nachdachte, desto wichtiger schien mir, Menschen nie mehr nur an ihren Erfolgen zu messen. Sondern auch an ihren Versuchen und Wünschen, an ihrer Sehnsucht, ihrem Scheitern und Streben.

Erst dann, so scheint mir, sehen wir den ganzen Menschen. Was umgekehrt nicht heissen soll, Erfolge zu schmälern. Ganz im Gegenteil.

Und so freut es mich besonders, dass eine Frau wie Nicole Niquille – so ganz echt und so ganz Mensch – letzte Woche mit einem Anerkennungspreis der Schweizer Paraplegiker-Stiftung geehrt wurde.

Nicht für einen bestimmten Erfolg. Sondern ganz einfach: für ihr Lebenswerk.


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