Kolumne Ein altes Kriegsdenkmal, plötzlich wieder aktuell

Von Caroline Fink

26.3.2022

Auf dem Schild steht: «Russland und Finnland, zwei Schwestern; Finnland und Russland, zwei Mütter; bilden nun dieses Kreuz der Trauer. Ihre Köpfe zu einem verschmolzen, ihre Hände vereint in der Hoffnung, dass die Liebe siegen möge. Es ist an uns. An jedem Einzelnen.»
Auf dem Schild steht: «Russland und Finnland, zwei Schwestern; Finnland und Russland, zwei Mütter; bilden nun dieses Kreuz der Trauer. Ihre Köpfe zu einem verschmolzen, ihre Hände vereint in der Hoffnung, dass die Liebe siegen möge. Es ist an uns. An jedem Einzelnen.»
Bild: Caroline Fink

In Russisch-Karelien steht ein Kriegsdenkmal, das an den russisch-finnischen Winterkrieg von 1939 erinnert. Die Kolumnistin besuchte es vor vier Jahren. Ohne zu ahnen, dass es traurige Aktualität erlangen würde.

Von Caroline Fink

Unser Fahrer Iwan war ein schweigsamer Mann. Er steuerte seinen Nissan durch Russisch-Karelien, während ich auf dem ledernen Rücksitz sass und Fremdenführerin Tatjana mir aus der Geschichte und Gegenwart der Region berichtete. Jener Region Russlands, die an Finnland grenzt.

Wo Seen und Wälder sich ausbreiten, Holzkirchen seit Jahrhunderten Wind und Wetter harren und Russen wie Finnen in Grenzstädten wie Sortavala auf Sonnenterrassen Borschtsch und Fisch mit Gurken schlemmen.

Nur einmal ergriff Iwan während einer Fahrt das Wort. Er wolle mir noch ein Kriegsdenkmal zeigen, sagte er. «Nur ein kleiner Umweg, okay?»

Ich antwortete höflich, aber zurückhaltend. Die Kriegsdenkmäler, die ich bis dato kannte, wirkten auf mich immer zu heroisch angesichts des Leides, für das sie standen. Doch diesmal sollte ich mich täuschen.

Sowjetischer Angriffskrieg gegen Finnland

Es war das einzige Mal, dass Iwan voranging und Tatjana schwieg, als wir einen Weg entlang zum Wald gingen. Und mit einem Mal begriff ich auch, um welchen Krieg es hier ging: den Winterkrieg von 1939.

Zur Autorin: Caroline Fink
Bild: Gaudenz Danuser

Caroline Fink ist Fotografin, Autorin und Filmemacherin. Selbst Bergsteigerin mit einem Flair für Reisen abseits üblicher Pfade, greift sie in ihren Arbeiten Themen auf, die ihr während Streifzügen in den Alpen, den Bergen der Welt und auf Reisen begegnen. Denn von einem ist sie überzeugt: Nur was einen selbst bewegt, hat die Kraft, andere zu inspirieren.

Auch meine finnischen Freund*innen hatten diesen schon erwähnt: Ein sowjetischer Angriffskrieg gegen Finnland, den man im übrigen Europa – aufgrund der folgenden Wirren des Zweiten Weltkrieges – weitgehend vergessen hat.

Doch jüngst ist mir dieses Kapitel nordischer Geschichte immer wieder eingefallen. Zu frappant sind die Parallelen zur aktuellen Situation in der Ukraine.

Finnland hatte sich 1917 vom Russischen Reich gelöst, um ein souveräner Staat zu werden; es folgten Querelen im Grenzgebiet Karelien, in denen Russland wie auch pro-finnische Separatisten Gebietsansprüche anmeldeten.

Dann – nach dem Angriff Deutschlands auf Polen – forderte Stalin die militärpolitische «Neutralisierung» Finnlands und stellte unhaltbare Gebietsforderungen an die finnische Regierung. Finnland – überzeugt davon, dass die Sowjetunion nicht kriegerisch angreifen würde – wies die Forderungen zurück.

Finnland bat Anrainerstaaten um Hilfe

Wenige Wochen später, am 30. November 1939, befahl Stalin den Angriffskrieg: Flieger der Roten Armee bombardierten am selben Tag Helsinki und marschierten entlang der Grenze ein. Finnland, das in etwa gleich viele Einwohner wie die Schweiz zählt, bat Anrainerstaaten umgehend um Hilfe, doch wollte kein anderer Staat militärisch eingreifen.

Finnland: Eine Abenddämmerung in Finnland nahe der russischen Grenze.
Finnland: Eine Abenddämmerung in Finnland nahe der russischen Grenze.
Bild: Caroline Fink

Die Westmächte lieferten Waffen, belegten die Sowjetunion mit einem Handelsembargo und schlossen sie vom Völkerbund aus; Menschen in den USA demonstrierten und organisierten Benefizkonzerte gegen den Überfall auf das kleine Land im Norden und einige tausend freiwillige Kämpfer aus anderen Ländern eilten nach Finnland.

Wie diese Geschichte ausging, können wir alle nachlesen: Die Rote Armee flog über 2000 Luftangriffe auf zivile Ziele in Finnland, während Finnland in den nordischen Wäldern – allein und mit aller Kraft – seine Unabhängigkeit über drei Monate lang verteidigte.

Gegen 200'000 sowjetische und 30'000 finnische Soldaten sowie rund 1000 finnische Zivilisten starben. Dann, am 13. März 1939, wurde von beiden Seiten der «Friedensvertrag von Moskau» geschlossen, in dessen Rahmen die Rote Armee sich zurückzog und Finnland mehrere Grenzgebiete an das heutige Russland abtrat – unter anderem die Stadt Sortavala.

«Russland und Finnland, zwei Schwestern»

Als Folge all dessen stand ich im Frühling 2018 also vor diesem Denkmal in Russisch-Karelien – dem ersten Kriegsdenkmal, das mich wirklich bewegte: zwei Frauengestalten, die in einer Umarmung ein Kreuz formen, Stirn an Stirn und die Hände ineinandergelegt, dazu eine Tafel mit einer Inschrift in Finnisch und Russisch:

«Russland und Finnland, zwei Schwestern; Finnland und Russland, zwei Mütter; bilden nun dieses Kreuz der Trauer. Ihre Köpfe zu einem verschmolzen, ihre Hände vereint in der Hoffnung, dass die Liebe siegen möge. Es ist an uns. An jedem Einzelnen.»

Abenddämmerung in Russland nahe der finnischen Grenze.
Abenddämmerung in Russland nahe der finnischen Grenze.
Caroline Fink

Ich dachte an meine Freund*innen in Finnland und an die Leute, die ich hier in Karelien getroffen hatte. Menschen, die ihren Kindern dieselben Mythen erzählten und durch dieselben Wälder gingen, dieselbe Sprache – das russische Karelisch klingt wie ein altes Finnisch – sprachen und oft auch dieselben Gerichte kochten.

Nach dem Besuch bedankte ich mich bei Iwan, mir diesen Ort gezeigt zu haben. Noch ahnte ich nicht, dass ich kein historisches Denkmal gesehen hatte, sondern eines, das nur vier Jahre später so aktuell wie nie zuvor sein würde.

Ein Kriegsdenkmal frei von Pathos, welches in der Stille des Waldes ganz einfach die Frage aufwarf: Warum bloss dieser Krieg, wenn am Ende alle trauern und keiner gewinnt?

Zurück zur Startseite