Dok-Filmerin über Sexarbeit «Unter den Prostituierten gibt es eine starke Hierarchie»

Von Bruno Bötschi

29.11.2023

Im Dokumentarfilm «Precious_LIEBEnsWERT» erzählen drei Frauen, wie sie wegen Drogen, Armut und Frauenhandel in die Prostitution gerieten.
Im Dokumentarfilm «Precious_LIEBEnsWERT» erzählen drei Frauen, wie sie wegen Drogen, Armut und Frauenhandel in die Prostitution gerieten.
Bild: Arthur Kofler

Im Dok-Film «Precious_LIEBEnsWERT» erzählen drei Frauen, wie sie aus Not in die Prostitution gerieten. Regisseurin Carola Mair sprach zudem mit Freiern, weil sie die verschiedenen Aspekte der Sexarbeit aufzeigen will.

Von Bruno Bötschi

29.11.2023

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Filmemacherin Carola Mair erzählt in ihrem Dokumentarfilm «Precious_LIEBEnsWERT», wie drei Frauen in Österreich wegen Drogen, Armut und Frauenhandel in die Prostitution geraten sind.
  • Bella (59), Lola (25) und Michelle (49) erzählen im Film, der jetzt in den Schweizer Kinos zu sehen ist, was die Arbeit als Prostituierte mit ihnen gemacht hat.
  • «Ich finde, man sollte allen beteiligten Parteien zuhören, also den Prostituierten genauso wie den Sexarbeiterinnen und den Freiern. Fakt ist, es gibt innerhalb der Branche eine starke Hierarchie», sagt Mair im Interview mit blue News.

Carola Mair, was ist der Unterschied zwischen Sexarbeit und Prostitution?

Der Begriff «Sexworker» wurde Ende der 70er Jahre durch die US-amerikanische Aktivistin Carol Leigh geprägt. Sie wollte damit ausdrücken, dass eine Sexarbeiterin ihren Beruf aus freien Stücken wählt. Wer hingegen von Prostitution spricht, so lautet auch der Tenor der meisten Beratungsstellen für Sexarbeit, hat ein patriarchales System vor Augen, das die Frauen nötigt, mit beliebigen Menschen Sex zu haben, wobei vor allem der Bordellbetreiber oder der Zuhälter davon profitiert.

Gegenüber der Prostitution und der Sexarbeit gibt es viele Vorurteile: Wem soll ich zuhören, wenn es um diese beiden Themen geht?

Ich finde, man sollte allen beteiligten Parteien zuhören, also den Prostituierten genauso wie den Sexarbeiterinnen und den Freiern. Fakt ist, es gibt innerhalb der Branche eine starke Hierarchie. Eine Prostituierte, die auf der Langstrasse in Zürich arbeitet, hat einen anderen Lebensstandard als eine Frau, die als Luxus-Escort tätig ist. Auch eine Domina hat innerhalb der Branche ein viel höheres Standing.

In Ihrem Dokumentarfilm «Precious_LIEBEnsWERT», der jetzt in den Schweizer Kinos zu sehen ist, porträtieren Sie die drei Prostituierten Bella (57), Lola (25) und Michelle (48). Stand für Sie vorab fest, dass Sie nur Protagonistinnen porträtieren möchten, welche die Not in die Prostitution getrieben hat?

Meine persönliche Geschichte bringt es mit sich, dass ich mehr an der prekären Situation von Prostituierten interessiert bin. Als Filmemacherin beschäftige ich mich seit über 20 Jahren mit dem Thema «Menschenrechte». Ich finde es zudem immer besser, mit den Betroffenen direkt zu sprechen, statt über sie zu reden. Kürzlich sprach ich mit einem Freier, der in eine deutlich jüngere Prostituierte verliebt ist.

Um was ging es in diesem Gespräch?

Der Mann erzählte mir, dass die Frau in einem Club arbeite, den sie untertags nicht verlassen darf. Tue sie dies trotzdem, dann sei ihr dies nur mit einem Security-Mann im Schlepptau erlaubt. Handelt die Frau gegen diese Regeln, müsse sie dem Clubbetreiber eine Busse von 1000 Franken zahlen. Da frage ich mich schon: Wie weit ist diese Tätigkeit selbstbestimmt?

«Ich will den Prostituierten mit meinem Film Sichtbarkeit verschaffen»: Carola Mair, Filmemacherin.
«Ich will den Prostituierten mit meinem Film Sichtbarkeit verschaffen»: Carola Mair, Filmemacherin.
Bild: zVg

Mit welcher persönlichen Haltung zum Thema «Sexarbeit und Prostitution» sind Sie an die Dreharbeiten herangegangen?

Vor «Precious_LIEBEnsWERT» drehte ich den Dokumentarfilm«Liebes:Leben». Darin geht es um das Thema häusliche Gewalt gegen Frauen. Aufgrund dieses Filmes kam eine Politikerin und die Polizei auf mich zu und fragte mich, ob ich es mir vorstellen könnte, einen Film zum Thema «Prostitution» zu drehen. Zuerst sagte ich ab.

Warum wollten Sie nicht?

Weil ich mich nicht schon wieder mit einem derart schweren Thema beschäftigen wollte.

Wie ging es weiter?

In der Folge lernte ich Schwester Maria Schlackl vom Orden der Salvatorianerinnen kennen. Schwester Maria setzt sich seit Jahren aktiv gegen Menschenhandel in Österreich ein und hilft Frauen, aus der Prostitution auszusteigen. Kurz danach lernte ich meine spätere Protagonistin Lola kennen. Sie ist bis heute ein Schützling von Schwester Maria. Lola wuchs in Nigeria auf und kam als Asylsuchende nach Österreich. Wenig später wurde sie von der Mafia nach Norwegen geschickt, wo sie auf dem Strassenstrich arbeiten musste. Nachdem Lola von der norwegischen Polizei aufgegriffen worden war, schickten sie die Behörden zurück nach Österreich. Lola ist heute ein offiziell anerkanntes Opfer von Menschenhandel.

War es schwierig, das Vertrauen von Bella, Lola und Michelle für Ihr Filmprojekt zu gewinnen?

Ich habe dies, denke ich, vor allem deshalb geschafft, weil ich mich komplett auf die drei Frauen eingelassen habe. Ohne ihr Vertrauen hätte ich meinen Film nicht realisieren können.

So grundsätzlich: Wieso haben Sie «Precious_LIEBEnsWERT» gedreht?

Ich will den Prostituierten mit meinem Film Sichtbarkeit verschaffen – auch deshalb, weil Prostitution und Sexarbeit nach wie vor emotionale Reizthemen sind. Während der Dreharbeiten zu «Precious_LIEBEnsWERT» wurde mir zudem klar, dass es zwei starke feministische Strömungen gibt. Kaum ein Thema ist unter Feministinnen derart umstritten wie Sex gegen Bezahlung. Während die eine Seite die Akzeptanz des Metiers fordert, will die andere den Sexkauf komplett verbieten.

Aus der Sicht von Prostitutionsgegner*innen sind alle Menschen, die als Sexarbeiterin tätig sind, Opfer.

Ich persönlich sehe das nicht so. Ich glaube zwar schon auch, dass es im Bereich Sexarbeit und Prostitution viele Abhängigkeiten gibt und dass viele Frauen, die ihren Körper anbieten, keine Alternativen haben. Es gibt aber auch individuelle Gründe, warum ein Mensch Sexarbeit verrichtet, und nicht jede Sexarbeiterin ist ein Opfer von Not oder Gewalt.

Die drei Sexarbeiterinnen in Ihrem Dokumentarfilm erzählen über Schmerzen, Erniedrigung, Risiken und über die Unmöglichkeit, zu empfinden. Bella sagt: «Ich habe das total gut gekonnt: alles in mir abdrehen. Wie ein Schalter. Damit machst du alles tot. Nur ist es so, dass du den Schalter irgendwann nicht mehr zurück umlegen kannst. Sonst hätte ich das mit den Männern und der Gewalt nicht gepackt.»

Ich bin nach wie vor mit Bella in Kontakt. Ihre Geschichte ist besonders tragisch. Bella nahm mit 12 zum ersten Mal Drogen, bevor sie mit 18 in einem Bordell gelandet ist. Später arbeitete sie auf dem Strassenstrich. Ich denke, um so etwas auszuhalten, muss ein Mensch aus seinem Körper aussteigen können, sonst ist das nicht zu überleben. Und trotzdem entwickelte sich bei Bella ein Waschzwang, weil sie sich vor der Gier der Männer grauste.

Ist Sexarbeit mit einem gewöhnlichen Job vergleichbar?

Was ich sagen kann, ist: Sexarbeit ist nicht vergleichbar mit einem Bürojob. Sexarbeit ist ein Job, der mit diversen Gefahren und Risiken verbunden ist. Ich wollte mit meinem Film eben auch kein soziales Märchen à la dem Kinofilm «Pretty Woman» realisieren und irgendetwas beschönigen aus dem Alltag meiner drei Protagonistinnen.

Vor zwei Jahren sagte mir eine Sexarbeiterin in einem Interview: «Arbeitet eine Frau aus freien Stücken als Sexarbeiterin, soll man das zumindest akzeptieren.»

Dieser Aussage stimme ich komplett zu. Es ist ja das Makabre an der Prostitution: Die Gesellschaft braucht Sexarbeiterinnen, gleichzeitig werden die Frauen jedoch stark stigmatisiert.

Sollte es ein gesellschaftliches Ziel sein, dass eine Sexarbeiterin am Elternabend in der Schule von ihrem Beruf erzählen kann?

Da frage ich mich natürlich zuerst: Welche Eltern möchten, dass ihr Kind später in der Prostitution arbeitet? Klar ist aber auch, das Thema «Sexualität» sollte in die Erziehung und Bildung von jungen Menschen stärker miteinbezogen werden. Durch das grosse Angebot von Pornografie und Sex als Ware wird insbesondere jungen Männern ein komplett falsches Bild vermittelt. Sexualität hat längst nicht nur mit Triebbefriedigung zu tun. Ein erfülltes Sexualleben macht uns Menschen glücklich.

Hat sich während der Recherchen für Ihren Dokumentarfilm «Precious_LIEBEnsWERT» und der Gespräche mit den Frauen Ihre Meinung über die Sexarbeit grundlegend verändert?

Ich habe mich für den Film während drei Jahren intensiv mit dem Thema «Sexarbeit und Prostitution» beschäftigt, weil ich über das Thema aufklären will. Dabei geht es mir aber weniger um die Debatte über ein Sexkauf-Verbot, also das sogenannte nordische Modell. Mir ist es vielmehr ein Anliegen, dass Politik und Polizei gemeinsam intensiver nach Lösungen suchen, wie man sexuelle Ausbeutung reduzieren kann.


Der Dokumentarfilm «Precious_LIEBEnsWERT» ist aktuell in den Schweizer Kinos zu sehen.


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