Eine Sexarbeiterin erzählt «Ich bin eine Prostituierte, die an Gott glaubt»

Von Noëmi Landolt

29.5.2021

Eine Sexarbeiterin auf dem Strichplatz in Zürich.
Eine Sexarbeiterin auf dem Strichplatz in Zürich.

Soll Prostitution in der Schweiz verboten werden? Das Buch «Ich bin Sexarbeiterin» will Gegensteuer geben – und lässt zehn Sexarbeiter*innen selber zu Wort kommen.

Von Noëmi Landolt

Emma hat Tourismus studiert und ist neben der Sexarbeit in Zürich auch Teilzeit in einem Hotel in Spanien tätig. Aimée hätte gern mehr gelernt, wäre lieber eine erfolgreiche Frau geworden statt eine Prostituierte. Charizma fehlen noch zwei Praktika für den zweiten Master in Ehe- und Familientherapie.

In den Gesprächen mit den Sexarbeiter*innen wird deutlich: Die einen machen die Arbeit aus ökonomischem Zwang, die anderen aus Freude an der Sache.

Es wird weder romantisiert noch dramatisiert: Das Buch «Ich bin Sexarbeiterin» (Limmat Verlag) zeigt, weshalb sich Sexarbeiter*innen für diese Tätigkeit entschieden haben und wie ihr Alltag aussieht. Sexarbeit ist legal in der Schweiz. Jene, die sie ausüben, leben indes häufig in prekären Situationen.

Sexarbeit wird kontrovers diskutiert, auch in feministischen Kreisen, aber in der Regel ohne die Stimmen von Sexarbeiter*innen. Dieses Buch gibt ihnen diese Stimme, sie erzählen von ihren Lebensrealitäten, Bedürfnissen, Problemen und Sichtweisen.

«blue News» publiziert exklusiv das Porträt über Sexarbeiterin Kazue. Es handelt sich hier um einen originalen Textauszug aus dem Buch. Deshalb erfolgten keine Anpassungen gemäss «blue News»-Regeln.

Kazue: «Ich spreche immer ein Gebet, bevor ich rausgehe, um zu arbeiten»

Kazues Studio im Zürcher Langstrassenquartier liegt direkt neben einem Restaurant. Die Fassade des Hauses ist vor Kurzem renoviert worden, das Treppenhaus sieht hingegen so aus, als sei seit den Achtzigern nichts mehr gemacht worden. «Im Haus leben und arbeiten nur Sexarbeiterinnen», erklärt Kazue auf dem Weg nach oben. «Manche bieten auch nur Massagen mit Happy End an. Für mich sind auch sie Prostituierte, auch wenn sie selbst das weit von sich weisen würden.»

Sie öffnet die Tür zu einer kleinen Zweizimmerwohnung. Im winzigen Entrée hängen ein Bild des Heiligen Georg, wie er den Drachen tötet, und das eines Buddhas. Es riecht leicht nach Zigarettenrauch, aber vor allem nach Air Freshener. Rechts ein mittelgrosses Zimmer mit einem Bett, zwei Schränken, einem grossen Spiegel, einer Klimaanlage und einer Art Sideboard, auf dem grosse Tuben mit Gleitmittel neben Raumsprays stehen. Hier arbeitet Kazue und empfängt ihre Kunden, wenn sie in Zürich ist. Im Zimmer nebenan schläft sie.

Hier passiert es: Bett in einem Bordell.
Hier passiert es: Bett in einem Bordell.

Kazue ist knapp sechzig Jahre alt, trans, und arbeitet seit gut dreissig Jahren als Sexarbeiterin in der Schweiz. Auf dem Flachbildfernseher gegenüber des Betts läuft ein Video mit Luftaufnahmen von Rio de Janeiro. Bevor sie in die Schweiz kam, arbeitete sie dort als Coiffeuse. «Ich machte die Haare der Mädchen, die nachts in Copacabana arbeiteten», wird sie später erzählen.

So habe sie auch eine Cabaret-Tänzerin kennengelernt, die in der Schweiz gearbeitet hatte, ihr von den Verdienstmöglichkeiten erzählte und dass es hier weniger Vorurteile gegenüber Sexarbeiter*innen gebe. «Sie sagte: ‹Joãozinho› – so hiess ich damals noch – ‹Joãozinho, du wirst viel Geld verdienen, wenn du in die Schweiz gehst, dort tanzt und dich prostituierst.›»

Also bewarb Kazue sich mit Foto bei einer Schweizer Agentur, die ihr tatsächlich einen Vertrag zuschickte, reiste in die Schweiz ein und arbeitete die nächsten Jahre in verschiedenen Cabarets in der Romandie und im Tessin. Sie habe keine Angst gehabt, denn sie habe Brasilien schon immer verlassen wollen, erinnert sich Kazue: «Die Menschen in Brasilien hatten so viele Vorurteile. Ich war damals schwul und hatte schon lange den Traum, mich in eine weibliche Figur zu transformieren. Und diese Transformation machte ich gleich an meinem ersten Tag in der Schweiz. Ich setzte mir eine Perücke auf, schminkte mich. Ich sah sehr feminin aus.»

Sie zeigt auf ihrem Handy ein Foto von sich aus jener Anfangszeit. Eine junge, sehr hübsche Frau, lächelnd in High Heels und Trenchcoat. Sorgfältig geschminkt ist Kazue auch heute noch. Ihr schulterlanges Haar ist dick und schwarz. Ganz in Schwarz gekleidet, setzt sie sich fürs Fotoshooting auf ihr Bett. Da sie nicht erkannt werden möchte, hält sie sich einen Spiegel vors Gesicht – und lächelt trotzdem immer, wenn die Kamera auf sie gerichtet ist.



Kazues Grosseltern waren in den Dreissigerjahren aus Ja­­pan vor dem Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieg nach Brasilien geflohen. Aus der Heimat ihrer Grosseltern brachte Kazue einen Kimono mit in die Schweiz und trat in den Schweizer Cabarets als Geisha auf. Die Kunden bezahlten den Champagner, für den Sex ging sie anschliessend mit ihnen in ein Chambre séparée. «Sobald ich merkte, wie viel Geld ich damit verdienen konnte, war die Sexarbeit nicht mehr schwierig für mich. Es ist viel schwieriger, viel zu arbeiten und wenig Geld zu verdienen», sagt sie lachend.

«Mir reichte es damals völlig aus, einmal pro Nacht mit einem Kunden für fünfzehn Minuten oder eine halbe Stunde in ein Séparée zu gehen. Ich ver­dien­­te etwa dreihundert bis fünfhundert Franken pro Kunde.» Doch heute sei es viel schwieriger geworden. Es gebe viel mehr Konkurrenz, mehr trans Menschen, die Sexarbeit machten – und vor allem viel mehr Frauen. Bei ihr selbst komme erschwerend das Alter hinzu. Wir sitzen mittlerweile in einem Kebab-Imbiss, dem ruhigsten Ort in dieser Ecke des Langstrassenquartiers. Ab und zu winkt sie Frauen zu, die draussen auf der Strasse vor dem Fenster vorbeigehen. Arbeitskolleg*innen. Von jeder kann sie etwas Kurzes erzählen: «Sie arbeitet nur am Wochenende, um ihren Lohn aufzubessern.» – «Sie ist eine sehr lustige und kluge Frau, hat einen zehnjährigen Sohn, aber leider hat sie grosse Probleme mit ihrer Spielsucht.»

Strichplatz in Zürich.
Strichplatz in Zürich.

Sieben Jahre lang trat Kazue als Geisha auf. Ab einem ge­­wissen Alter finde man jedoch keine Arbeit mehr im Cabaret. Kazue – amtlich männlichen Geschlechts – heiratete eine Freundin, die ebenfalls Sexarbeiterin war, um in der Schweiz bleiben zu können. Zwei Jahre wohnten die beiden zusammen, verheiratet sind sie bis heute, treffen sich jede Woche zum Mittagessen, telefonieren oft. «Wir führen in vielerlei Hinsicht eine stabilere Ehe als so manch ‹reguläres› Ehepaar.»

Nach ihrer Zeit als Cabaret-Tänzerin arbeitete Kazue in verschiedenen Städten auf der Strasse. Das heisst, sie traf die Kunden auf der Strasse und nahm sie dann mit in ihr Studio. «In dieser Zeit wurde ich ein bisschen depressiv und leider auch spielsüchtig», erinnert sie sich. Sie habe jeweils zwei Tage gearbeitet, am dritten ging sie ins Casino. «Wenn man weit weg ist von seiner Mutter und der Familie, werden viele Menschen depressiv. Das ist normal. Bei mir kam hinzu, dass ich die Sexarbeit verstecken musste, um meine Mutter nicht zu kränken. Aber Gott sei Dank wurde ich nie alkohol- oder drogensüchtig.»

Sie verlor viel Geld in jener Zeit, musste ihre Wohnung in Rio de Janeiro aufgeben, hatte viele Schulden. Heute hat Kazue Hausverbot in allen Schweizer Casinos, sie selbst habe sich auf diese Schwarze Liste setzen lassen: «Eine der besten Entscheidungen meines Lebens.» Geholfen habe ihr auch ihr Glaube. Sie betet oft zu Gott und bat auch ihre Mutter, für sie zu beten. Kazue ist katholisch und sehr gläubig, so wie ihre Mutter – die katholisch und «ein bisschen buddhistisch» ist. Kazue geht heute etwa dreimal im Jahr zurück nach Brasilien, um ihre Mutter zu besuchen. Jedes Mal besucht sie auch Nossa Senhora Aparecida, die zweitgrösste katholische Kirche der Welt im Hinterland São Paulos. «Ich bin eine Prostituierte, die an Gott glaubt. Ich weiss, dass Sexarbeit eine Sünde ist. Aber ich weiss auch, dass Gott meine Situation versteht. Die Religion gibt mir Kraft. Ich spreche immer ein Gebet, bevor ich rausgehe, um zu arbeiten.»

Anders als im Cabaret musste Kazue auf der Strasse kein Geld mehr an einen Patron abtreten, sie war selbständig und musste nur die Miete für ihr Studio bezahlen. Das sei sehr teuer gewesen, etwa hundert Franken pro Tag. «Aber wir verdien­ten auch gut. Ich kaufte mir viele schöne Sachen, teure Kleider, Handtaschen von Louis Vuitton und andere Dummheiten. Einmal habe ich an einem einzigen Tag 6000 Franken für Handtaschen ausgegeben. Es war eine Art Kompensation für die schwere Arbeit. Und ich dachte, es würde immer so weitergehen.»

Verlassenes Bordell während der Corona Zeit. 
Verlassenes Bordell während der Corona Zeit. 

Aber dann sei es abwärtsgegangen mit der Sexarbeit. In Lausanne lernte Kazue schliesslich die Organisation Fleur de Pavé kennen, die sich für die Rechte von Sexarbeiter*innen einsetzt. Sie begann in einem Zehn-Prozent-Pensum Präventionsarbeit für sie zu machen. Das war 2001. Heute arbeitet sie drei Tage in der Woche als Mediatorin für die Organisation Aspasie in Genf, wo sie auch eine Wohnung hat. Sexarbeit macht sie nur in Zürich. «Ich möchte meine zwei Jobs räumlich voneinander trennen, eine andere Stadt, ein anderer Hut.»

Sexarbeit gefalle ihr besser als die Arbeit als Mediatorin. Natürlich sei Sexarbeit nicht einfach: betrunkene oder ge­­walttätige Kunden. In den Cabarets müssten die Frauen so viel Champagner trinken, dass viele zu Alkoholikerinnen würden. Der Konkurrenzdruck, der Neid und der Tratsch unter den Frauen selbst. Die hohen Mieten. «Der Staat sollte dafür sorgen, dass alle Sexarbeiterinnen die gleichen Rechte haben. Dann gäbe es vielleicht auch mehr Solidarität unter den Frauen, und sie würden weniger ausgenutzt von Zuhältern oder Vermietern, die Wucherzinsen verlangen. Sowieso sollten die Behörden die Mieten besser überwachen.» Sie kenne manche Frauen, die mit ihrem Verdienst gerade mal ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen finanzieren könnten, sonst liege kaum etwas drin.



Kazue hat zwischenzeitlich einmal in einer Restaurant­küche sowie als Coiffeuse gearbeitet: «Ich wollte sehen, wie es ist, ein ‹normales› Leben zu führen, ein ‹normaler› Teil der Gesellschaft zu sein. Doch es gelang mir nicht.» Schon nach kurzer Zeit sei sie wieder zur Sexarbeit zurückgekehrt. «Die Sexarbeit gefällt mir viel besser. Ich liebe es, von Männern be­­­wundert zu werden. Mit ihnen ihre sexuellen Fantasien auszuleben.» Es kämen vor allem verheiratete Männer zu ihr. Manche, denen es gefällt, sich wie eine Frau zu kleiden, Perücke und hochhackige Stiefel zu tragen, sich zu schminken. «Man muss ihnen Zuversicht geben und sehr geduldig sein.»

Kazue hat einige Stammkunden, die seit vielen Jahren zu ihr kommen. Ansonsten lernt sie die Freier auf der Strasse kennen, in einer Bar, manchmal schaltet sie eine Annonce in der Zeitung. Aber nie im Internet: «Dort muss man ein Foto posten und ich bin schon zu alt für Fotos. Ich mag es, meine Kunden zu überraschen. Wenn es ihnen gefällt, was sie sehen, bleiben sie; wenn nicht, dann können sie wieder gehen.»

Sie denke noch nicht daran, in Rente zu gehen, «solange es Männer gibt, die mich bezahlen, möchte ich weitermachen. Ich weiss, wie man die Kunden gut behandelt, wie man sie dazu bringt, dass sie gutes Geld zahlen. Es nützt nichts, jung und schön zu sein, wenn man nicht dazu auch intelligent ist». Da klingelt ihr Mobiltelefon. Der nächste Kunde. «Oui, j’arrive. Ich komme in fünf Minuten.»

Bibliografie: Ich bin Sexarbeiterin, Porträts und Texte, mit Fotografien von Yoshiko Kusano, 160 Seiten, Limmat Verlag, 32 Franken