Bötschi fragtPriya Ragu: «Weniger unsicher sein und dem Typen, den ich liebte, meine Liebe gestehen»
Von Bruno Bötschi
4.10.2022
Feiert heute Abend Premiere: Die neue Single «Adalam Va!» von Priya Ragu.
Quelle: youtube.com
Sie hatte Träume, aber ihr fehlte der Mut. Dann unterschrieb die tamilisch-schweizerische Sängerin Priya Ragu einen internationalen Plattenvertrag. Ein Gespräch über die Flucht ihrer Eltern, den Glauben an sich selbst und ob sie demnächst ein Duett mit Dua Lipa singen wird.
Von Bruno Bötschi
04.10.2022, 18:01
20.10.2023, 09:35
Bruno Bötschi
«In dem Jahr, in dem die Welt abrupt angehalten wurde, fing sie sich für Priya Ragu endlich an zu drehen», schrieb die NZZ im vergangenen Herbst über die 35-jährige Sängerin, die in St. Gallen aufgewachsen ist. Und traf den Nagel damit auf den Kopf.
Mit ihrem Song «Good Love 2.0» schaffte Priya Ragu 2021 den Sprung ins internationale Pop-Geschäft, während zur gleichen Zeit das Corona-Virus die Welt lahm legte. Kurz danach unterzeichnete sie einen Plattenvertrag mit dem britischen Ableger von Warner Music.
Die letzten zwei Jahre im Leben der Sängerin könnten durchaus als Vorlage für einen Hollywood-Film dienen:
Neue Single
Dieses Interview erschien zum ersten Mal am 9. März 2022 auf blue News. Wir publizieren es aus aktuellem Anlass erneut: Heute Abend erscheint um 19 Uhr Schweizer Zeit die neue Single «Adalam Va!» von Priya Ragu.
2020 arbeitete sie noch Teilzeit als technische Einkäuferin bei der Swiss, bevor sie im Herbst 2021 zum ersten Mal auf Europatournee ging und am legendären Montreux Jazz Festival auftrat.
Nun setzt Priya Ragu ihre musikalische Reise mit der Single «Illuminous» fort. Ein Song, in dem sie ihren lebensfrohen Raguwavy-Vibe von ihrem Album «damnshestamil» weiterentwickelt hat. Ein Song, der zum Tanzen animiert – also gerade wunderbar passt, nachdem die Clubs seit Kurzem wieder offen sind.
Priya Ragu, wir machen heute ein Frage-Antwort-Spiel: Ich stelle dir in den nächsten 30 Minuten möglichst viele Fragen – und du antwortest möglichst schnell und spontan. Passt dir eine Frage nicht, sagst du einfach «weiter».
Sophie Hunger. Ihre Musik begleitet mich schon seit Jahren.
St. Gallen oder New York?
New York ist eine Stadt, die einem viele Möglichkeiten bietet und die Chance, Träume zu verwirklichen. Die sozialen Medien sorgten jedoch in den letzten Jahren immer mehr dafür, dass man auch in einer Stadt wie St. Gallen, wo ich aufgewachsen bin, eine internationale Karriere als Musikerin anstreben kann.
Vor einem Jahr titelten wir auf blue News: «Priya Ragu, der neue Weltstar aus dem Toggenburg». Was denkst du, wenn du das Wort «Weltstar» im Zusammenhang mit dir liest?
Zum Autor: Bruno Bötschi
Bild: zVg
blue News-Redaktor Bruno Bötschi spricht für das Frage-Antwort-Spiel «Bötschi fragt» regelmässig mit bekannten Persönlichkeiten aus dem In- und Ausland. Er stellt ihnen ganz viele Fragen – immer direkt, oft lustig und manchmal auch tiefsinnig. Dabei bleibt bis zur allerletzten Frage immer offen, wo das rasante Pingpong hinführt.
Für mich klingt das ziemlich übertrieben. Persönlich kann ich mit dem Wort «Weltstar» nicht viel anfangen. Was ich hingegen weiss: Ich habe die Möglichkeit bekommen, mein musikalisches Talent auszuleben. Das ist toll. Aber gleichzeitig weiss ich, ich muss demütig bleiben und weise agieren.
Wir von blue News sind scheinbar nicht die einzigen, die an deine Erfolgschancen glauben: Die «Vogue» tippte auf dich als eine der sechs Stimmen, «die in die Stratosphäre abheben». Und beim «New Musical Express» tauchtest du auf der Liste der «100 essenziellen neuen Künstler*innen fürs kommende Jahr» auf.
Es ist krass, was in den letzten zwei Jahren alles passiert ist. Und dann grassiert zeitgleich auch noch die Corona-Pandemie, dabei ist es doch schon unter normalen Umständen schwierig, im internationalen Musikbusiness Fuss zu fassen. Umso dankbarer bin ich, dass ich diese Chance bekommen habe. Gleichzeitig bin ich stolz darauf, dass ich mich in den letzten Jahren nicht unterkriegen liess von jenen Stimmen, die meinten, eine solche Karriere aus der Schweiz sei nicht möglich. Ich bin froh, habe ich mich nicht limitieren und mir meine Träume nicht nehmen lassen.
Wie schaffst du es, bei so viel Lob und Ehre den Boden unter den Füssen nicht zu verlieren?
Meine Familie und meine Freunde helfen mir dabei – und wenn ich in der Schweiz weile, fühlt sich bisher alles noch ziemlich normal an.
Und in London, wo du jetzt teilweise lebst, wie fühlt es sich dort an?
Verrückter. Zum Teil werde ich auf der Strasse erkannt. In der Schweiz passiert das nicht, was mir ganz recht ist.
Priya, dein Vorname – was bedeutet er?
Priya bedeutet Liebe oder verliebt sein.
Dein Spitzname in der Schulzeit?
Ganz früher wurde ich oft Pri genannt, heute meist nur noch P.
In einem Interview sagtest du: «Als Jugendliche war die Verbindung zu meiner Kultur schwierig. Es war nicht cool, tamilisch zu sein.»
Ich wurde oft wegen meiner dunklen Hautfarbe gehänselt, wirklich gelitten darunter habe ich jedoch nicht.
Was haben die Hänseleien mit dir gemacht?
Ich versuchte mit der Masse mitzuschwimmen, also einfach nicht aufzufallen und alles zu tun, was eine Schweizerin oder Schweizer halt so macht. Ich ass zum Beispiel zum Znüni keine asiatischen Gerichte mehr, sondern wie alle anderen auch ein Sandwich. Als junge Frau fehlte mir oft das Selbstvertrauen.
Deine Mutter und dein Vater flüchteten anfangs der 1980er-Jahren vor dem Bürgerkrieg in Sri Lanka in die Schweiz. Was haben sie dir über den Krieg und die Flucht erzählt?
Sehr wenig. Lange Zeit dachte ich, sie hätten einfach keine Lust darüber zu reden. Erst als ich älter wurde, realisierte ich, dass die Flucht meine Mutter und meinen Vater traumatisiert hat. Heute reden wir regelmässig über die damalige Zeit und meine Eltern erzählen mir, was sie damals gefühlt haben. Ich bewundere sie, dass ich so lange nie Klagen gehört habe und wie sie alles gemeistert haben in der Schweiz.
Deine Eltern machten ähnliche Erfahrungen, wie sie gerade über eine Million Ukrainer*innen dieser Tage erleben müssen.
Es stimmt, durch die Geschichte meiner Eltern bin ich auf das Thema «Flucht» sensibilisiert. Aber egal, ob in der Ukraine, in Syrien oder wo auch immer, es ist einfach nur schrecklich, dass Menschen bis heute unter kriegerischen Auseinandersetzungen leiden müssen. Und das oft nur, weil Politiker nicht fähig sind, sich zusammenzuraufen.
Der Begriff «Heimat» – was bedeutet er für dich?
Heimat ist für mich Gefühl. Heimat fängt in mir selber an. Ich muss mich in meinem Körper wohlfühlen, dann kann ich mich fast überall auf der Welt heimisch fühlen.
So grundsätzlich: Werden in den Schweizer Schulen musische Fächer genügend gefördert?
Für mich war der Musikunterricht immer der Höhepunkt. Da konnte ich zeigen, was ich draufhatte, während ich beim restlichen Schulstoff kaum glänzte. Ich finde, den kreativen Fächer müsste deutlich mehr Platz eingeräumt werden.
Erinnerst du dich an den Moment, als du deine Stimme hörtest und dachtest: «Wow, sie klingt wunderschön. Damit kann ich etwas erreichen.»
Konkret kann ich mich an einen solchen Moment nicht erinnern. Zum ersten Mal in ein Mikrofon sang ich, als ich zehn Jahre alt war. Neben mir spielte Roshaan, mein älterer Bruder, Keyboard und unser Vater schlug die Tabla, eine indische Trommel. Wir traten als Familienband an Festen der tamilischen Gemeinde auf. Ich fand das aber nicht nur lustig.
Warum nicht?
Ich hatte Mühe mit den Texten, traf oft die hohen Töne nicht. Trotzdem habe ich beim Singen mit meiner Familie mit der Zeit entdeckt, dass ich eine Stimme habe.
Wie ging es weiter?
Später entdeckte ich Rhythm and Blues, Soul und Hip-Hop und wusste sofort: Das ist meine Musik. Ich erinnere mich noch genau, als ich Lauryn Hill zum ersten Mal hörte. Das war wie eine Offenbarung. Ich wusste bis dahin nicht, dass eine Stimme einen derart stark berühren kann.
Wirklich wahr, dass du die Hits deines Idoles nur heimlich nachsingen durftest, weil deine Eltern deine musikalischen Ambitionen missbilligten?
Anfänglich hatte mein Vater nichts dagegen, dass ich schwarze Musik höre. Irgendwann jedoch beschlich ihn das Gefühl, ich könnte deswegen meine tamilischen Wurzeln vergessen. Was wohl auch damit zu tun hatte, dass mein Bruder Roshaan vier Jahre älter ist und bereits seine eigene Band hatte. Er machte Rapmusik. Meine Eltern hatten zudem das Gefühl, dass Sängerin kein richtiger Beruf ist und ich nie davon leben könnte. Ihr Traum war stattdessen, dass ich heirate, im Büro arbeite und irgendwann Kinder bekomme.
Als du 16 warst, wollte dein Bruder Roshaan, er nennt sich heute als Musiker Japhna Gold, einen Auftritt in der «Grabenhalle» in St. Gallen vermitteln. Doch dein Vater verbot dir im letzten Moment den Auftritt. Warum?
Eine Woche vor besagtem Konzert hatte ich allen Mut zusammengenommen und meinem Bruder den Song «Fallin» von Alice Keys vorgesungen. Ich glaube, damals realisierte Japhna zum ersten Mal, dass ich eine Stimme habe, obwohl ich davor nie Gesangsunterricht bekommen hatte. Er war begeistert von meiner Performance und fand, ich solle den Song während des Konzerts seiner Band in der «Grabenhalle» performen. Ich sagte zu und trug den Termin in mein Tagebuch ein. Leider liess ich das Tagebuch geöffnet in meinem Zimmer liegen und mein Vater entdeckte den Eintrag. In der Folge verbot er mir den Auftritt. Meine Eltern waren extrem streng. Ich durfte mit 16 noch nicht in den Ausgang.
Wie fühlte sich das an?
Es war der schlimmste Tag meines Lebens. Von da an beschloss ich, meinen Eltern nichts mehr über meine Musik zu sagen, bis ich etwas erreicht habe damit. Und das habe ich auch so durchgezogen.
Wann erlaubte dir dein Vater auf der Bühne zu stehen oder hast du das erst mit 18 getan?
Mit 17 nahm ich ohne Wissen meiner Eltern an einem Open-Mic-Anlass im «Kaufleuten» in Zürich teil. Das war ein extrem wichtiger Moment in meinem Leben.
Auf den ersten Blick ist deine Musik ein Soloprojekt, aber eigentlich seid ihr zu zweit – du und dein Bruder.
Die meisten Songs schreiben wir zusammen, Japhna produziert sie und ich singe.
Ein Tick deines Bruders, den du besonders magst?
Ich bewundere ihn für seine Geduld.
Für welche deiner Charakterschwächen schämst du dich am meisten?
Musikalisch hatten wir noch nie Streit. Privat hingegen kommt es ab und an vor, dass wir uns angifteln, wie das halt Geschwister so machen (lacht).
In den Medien heisst es immer wieder, deine Musik schlage eine Brücke zwischen Kulturen. Kann Musik die Welt verändern?
Definitiv. Musik bringt Menschen mit ganz unterschiedlichen Meinungen während eines Konzertes zusammen, lässt uns tanzen und mitsingen, hin und wieder auch weinen. Musik bahnt sich den Weg direkt in unsere Gefühlswelt.
Die letzten zwei Jahre müssen sich für dich ziemlich verrückt angefühlt haben.
Hin und wieder muss ich mich selber kneifen und fragen: Was läuft da gerade alles?
Es klingt fast nach einer Tellerwäscherin-Karriere: 2020 warst du noch als technische Einkäuferin Teilzeit bei der Swiss beschäftigt, bevor du im Herbst 2021 zum ersten Mal auf Europatournee gegangen und am legendären Montreux Jazz Festival aufgetreten bist.
Jahrelang wurde mir gesagt, als Musikerin in der Schweiz würde ich es niemals schaffen, international Karriere zu machen und sowieso, wenn ich auf Englisch singen täte. Wer hierzulande Erfolg haben wolle, müsse auf Deutsch oder besser noch auf Mundart singen. Das hat mich immer wieder demotiviert, aber gleichzeitig liess ich mich nicht von meinem Weg abbringen. Und dann ging alles plötzlich durch die Decke.
Wirklich wahr, dass es nur einen einzigen Videoanruf brauchte, damit du und dein Bruder einen Vertrag mit einer der grössten Plattenfirmen der Welt in der Tasche hattet?
So ist es. Nachdem Japhna und ich 2021 den Song «Good Love 2.0» releast hatten, standen plötzlich mehrere Labels auf der Matte und wollten uns unter Vertrag nehmen. Ich dachte damals noch, was wollen die alle, das schaffen wir doch selber. Irgendwann hatten wir dann Warner Records am Draht. Ich war total eingeschüchtert und konnte fast nicht reden.
Warum das?
Auf der anderen Seite war Joe Kentish am Draht, der Chef der Abteilung Künstler und Repertoire bei Warner Records. Er ist der Mann, der unter anderem Dua Lipa entdeckt hat. Kentish meinte, er sei total Fan von unserer Musik und er wolle uns unbedingt unter Vertrag, ganz egal, was es koste.
Dua Lipa spielt in einer anderen Liga. Aber gleichzeitig weiss ich natürlich: Sag niemals nie.
Die beste Seite vom Erfolg?
Ich kann endlich das machen, von dem ich jahrelang geträumt habe und muss nicht mehr im Büro arbeiten.
Die schlechteste Seite vom Erfolg?
Menschen, die dir den Erfolg nicht gönnen, und die Haters in den sozialen Medien.
Ist dein Tagebuch nach wie vor eine wichtige Stütze in deinem Leben?
Es ist mir nach wie vor megawichtig, auch wenn ich aktuell nicht mehr täglich Einträge mache.
Wie lautet der letzte Eintrag in deinem Tagebuch?
In meinem Tagebuch führe ich oft Selbstgespräche mit mir. Ich schreibe zudem auf, was mich gerade beschäftigt oder mir besonders viel Freude macht. In meinem Tagebuch notiere ich zudem, welche Menschen ich gerade geil finde.
Meinst du das musikalisch oder privat?
Beides (lacht schallend).
Macht gute Musik glücklicher als viel Geld?
Definitiv.
Welche Musik macht dich ganz schnell glücklich?
Höre ich die Musik der spanischen Sängerin Concha Buika, werde ich von einer Sekunde auf die andere von Glücksgefühlen durchgespült.
Gibt es Musik, die dich traurig macht?
Fado Musik aus Portugal stimmt mich oft traurig, aber auch die Stimme von Lauryn Hill. Ihre Stimme ist derart einmalig und trifft direkt in die Seele.
Du schaffst mit deiner Stimme bei vielen Menschen Ähnliches.
Anscheinend – und dies zu hören ist megaschön.
Deine neue Single heisst «Illuminous», was übersetzt «erleuchtet» heisst.
In «Illuminous» geht es weniger um die Erleuchtung im spirituellen Sinn. Der Song zeigt vielmehr, wie ich mich gerade fühle. Jahrelang wurde mir gesagt, dass meine Karrierepläne nicht aufgehen können. Heute weiss ich, egal wie alt man ist, wenn man an seine Träume glaubt, ist die Chance gross, dass sie irgendwann wahr werden. Und dann fängt man an zu leuchten und das fühlt sich grossartig, nein, unbesiegbar an.
Was würdest du als Erstes tun, wenn du nochmals einen Tag lang 16 sein könntest?
Weniger unsicher sein und dem Typen, den ich damals liebte, meine Liebe gestehen (lacht).
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Newcomerin Priya Ragu hat in diesem Jahr zum ersten Mal am Gurten gespielt. blue Music hat sich zuvor auf dem Berner Hausberg mit der Sängerin getroffen – und über all die anderen ersten Male in ihrem Leben gesprochen.