Kolumne Meditation ist die viel bessere Marie Kondo

Von Michelle de Oliveira

20.1.2020

Wer Marie Kondo zusieht, könnte denken, Aufräumen sei die schönste Tätigkeit der Welt.
Wer Marie Kondo zusieht, könnte denken, Aufräumen sei die schönste Tätigkeit der Welt.
Bild: Netflix

Wer der japanischen Profi-Aufräumerin Marie Kondo auf Netflix zuschaut, denkt möglicherweise, Saubermachen sei die schönste Tätigkeit der Welt. Die Kolumnistin ist damit nur teilweise einverstanden.

Zum Jahresbeginn ist gründliches Ausmisten ein allseits beliebtes Ritual. Weg mit allem, was nicht länger von Nutzen ist, loslassen und in den eigenen vier Wänden endlich mehr Raum schaffen.

Aufräumen tut gut. Das ist eine alte Weisheit, die von der Aufräumerin Marie Kondo neu aufgerollt wurde. Im wahrsten Sinne des Wortes übrigens: Die japanische Profi-Ausmisterin empfiehlt, die Kleider zu rollen und so zu versorgen.

Kondo verfasst Ratgeber und hat ihre eigene Entrümpelungsshow auf Netflix. Sie rät, jeden Gegenstand in die Hand zu nehmen und sich zu fragen: Verursacht er Glücksgefühle?

Falls die Antwort «ja» lautet, darf das Stück bleiben. Wird man beim Betrachten nicht mit Dopamin geflutet, hat das letzte Stündchen geschlagen.

Aufräumen bringt Glück, aber ...

So soll man mit all seinen Besitztümern verfahren und schliesslich zum Glück finden. Denn wer sich in einem aufgeräumten Zuhause aufhält, umgeben einzig von Gegenständen, die Glücksgefühle verursachen, kann ja nur glücklich und aufgeräumt sein.

Ich bin mit dem Teil einverstanden, dass Aufräumen guttut. Ich liebe es, wenn mein Schrank ordentlich ist, im Wohnzimmer alles an seinem Platz ist und generell keine unnötigen Dinge herumliegen. Äussere Ordnung kann der inneren Ruhe zuträglich sein, kein Zweifel. Nur sieht die Realität leider chaotischer aus.



Zum Beispiel im Leben mit meinen Kindern: Will ich etwas von meinem Sohn wegräumen, ist er immer ganz fest davon überzeugt, dass genau dieses Buch, dieses Auto oder dieses Ahornblatt ihn gerade am allerglücklichsten macht.

Seit er die Kleider für sich und seine kleine Schwester auswählt, sind die T-Shirts im Schrank zwar tatsächlich gerollt, aber ungefähr fünf ineinander zu einem Knoten verschlungen. Seine Spielzeug-Autos liegen im Bett, in der Badewanne und in der Küchenschublade. Zeitweise gleicht unsere Wohnung wohl Marie Kondos schlimmsten Albträumen.

Das Chaos in den eigenen vier Wänden ist das eine. Aber die Unordnung beschränkt sich nicht auf einige Quadratmeter. Das wahre Durcheinander im Leben lässt sich nicht einfach in «macht glücklich/macht nicht glücklich» einteilen und ausmisten. Wir müssen mit Chaos umgehen können.

Keine Panik, es gibt Hilfe

Geht im Job alles drunter und drüber: Chaos. Zerbricht eine Beziehung: Chaos. Politische Entscheidungen, die überhaupt nicht den eigenen Idealen entsprechen: Chaos. Kein Schnee in den Skiferien: Chaos. Magen-Darm-Grippe am Tag der eigenen Hochzeit: Chaos. Und vorbei ist es mit dem Glücklich- und Aufgeräumtsein.

In der Achtsamkeitsmeditation übt man, anzunehmen, was das Leben einem gerade so vor die Nase setzt. (Symbolbild)
In der Achtsamkeitsmeditation übt man, anzunehmen, was das Leben einem gerade so vor die Nase setzt. (Symbolbild)
Bild: Getty Images

Aber keine Panik, es gibt Hilfe. Und zwar in Form von Meditation. In der Achtsamkeitsmeditation übt man, anzunehmen, was das Leben einem gerade so vor die Nase setzt. Unangenehme Erfahrungen verschwinden durch Meditation nicht etwa, aber der Umgang mit ihnen wird leichter.

Ich meditiere seit Jahren und mache die Zeit auf dem Meditationskissen zu meiner Priorität. Und zwar bevor ich aufräume oder wasche oder putze. Denn ich weiss: Je regelmässiger ich übe, meine Gedanken und Gefühle und äusseren Umstände mit Gelassenheit anzunehmen, umso entspannter bin im Umgang mit allen Arten von Chaos.



Meditieren fordert stetiges Üben, immer und immer wieder. Inneres Aufräumen ist anstrengender, als einmal im Jahr die Wohnung auszumisten. Aber dafür auch viel nachhaltiger.

Denn wer sich vom inneren Chaos nicht überwältigen lässt, kann das auf die äussere Unordnung übertragen und fühlt sich auch mit puffiger Wohnung, trotzenden Kindern und verspätetem Zug glücklich.

Oder zumindest gelassener.

Zur Autorin: Michelle de Oliveira ist Journalistin, Social Media Redaktorin, Mutter, Yogalehrerin und immer auf der Suche nach Balance – nicht nur auf der Yogamatte. Sie lebt mit ihrer Familie in Zürich. www.yogamichelle.ch.

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