KolumneMe-Time als Mutter geniessen können? So klappt es wirklich
Michelle de Oliveira
18.11.2018
Ich habe ein Baby und genug Zeit für mich. Aber warum bin ich trotzdem ständig so erschöpft, fragte sich «Bluewin»-Kolumnistin Michelle de Oliveira vor einigen Wochen – und fand die Antwort. Zum Glück.
Unser Sohn ist jetzt 10 Monate alt. Nachdem seine Ankunft unser Leben wie ein Erdbeben erschüttert hat (Stichwort: Schreibaby), hat sich unser Familiendasein mittlerweile angenehm eingependelt.
Wir haben uns kennen gelernt, wir finden unseren Sohn grossartig und er uns – soweit wir das beurteilen können – auch. Wir erfreuen uns eines mehr oder weniger regelmässigen Schlafrhythmus und verbringen immer mal wieder Bilderbuchmomente im Familienbett, in der Badi oder beim Grosi im Garten.
Und dennoch war ich vor einigen Wochen auf einmal unendlich müde. Ich fühlte mich, als wäre mein ganzer Körper mit diesen Sandgewichten behängt, die sich andere Leute zum Joggen um Hand- und Fussgelenke schnallen. Eines Freitagabends heulte ich meinen Mann derart voll, dass ich auf seinem T-Shirt einen tellergrossen Fleck aus einem schmierigen Tränen-Mascara-Gemisch hinterliess.
Das schlechte Gewissen
Was wollte oder brauchte ich denn noch mehr? Ich habe einen Mann an meiner Seite, den ich über alles liebe und mit dem ich mir all die neuen Aufgaben teile. Mein Job-Pensum konnte ich auf angenehme 60 Prozent reduzieren und meine Vorgesetzten zeigen viel Verständnis für die Anfänger-Mama.
Viele meiner Freundinnen sind Neu-Mütter, ich kann mich jederzeit mit ihnen austauschen. Ich gehe mehrmals pro Woche zum Yoga, kann mir Zeit nehmen zum Meditieren und Lesen, gehe regelmässig in den Apéro und in den Ausgang. Also all die Dinge, die mir Freude machen, haben auch im neuen Leben Platz. Warum war ich denn auf einmal so erschöpft?
Mit grösster Vorsicht (er wollte das Tal der Tränen nicht gleich wieder fluten) wagte mein Mann einen Versuch und fragte mich:
«Kannst du die Zeit für dich denn geniessen?»
«Klar, warum sollte ich das nicht tun?»
«Weil ich manchmal den Eindruck habe, du hättest ein schlechtes Gewissen, wenn du weg warst.»
Ich wollte ihm Paroli bieten, doch stattdessen schnappte ich nur nach Luft. Denn: Er hatte recht. Verdammt recht. Während ich darüber nachdachte erkannte ich, dass ich – kaum war ich jeweils wieder zu Hause – zu Übersprungshandlungen neigte.
Hektisch flitzte ich dann durch die Wohnung, räumte Spielsachen zur Seite, die niemanden gestört haben, putzte abends um elf die (verhältnismässig) saubere Küche und beharrte darauf, die nächsten 257 Nachtschichten zu übernehmen, nur weil ich einen einzigen Abend lang weg war.
Und wenn ich ehrlich war, begann es schon früher. Nämlich dann, wenn ich im Yoga in der Schlussentspannung war oder mir ein weiteres Bier bestellte: Ich wurde nervös, schaute immer wieder auf die Uhr und erstellte im Kopf meterlange To-Do-Listen. Ich war nur noch physisch anwesend; mental wechselte ich längst wieder Windeln.
Pendenzen kreieren, die gar keine sind
Mir wurde mir klar, in welchem Teufelskreis ich Ehrenrunde um Ehrenrunde drehte: Weil ich erschöpft war, wollte ich mir mehr Erholung gönnen und Freiraum schaffen. Diese Auszeiten konnte ich aber nicht geniessen, weil ich ein schlechtes Gewissen hatte. Zu Hause wollte ich das kompensieren und kreierte Pendenzen, die keine waren. Und wurde noch gestresster, noch müder…
Das Verrückteste am Ganzen: Nichts und niemand gab mir einen Grund für dieses schlechte Gewissen. Ich ganz alleine war dafür verantwortlich. Natürlich hatte ich mich jeweils mit meinem Mann abgesprochen, bevor ich für die Party des Jahres zusagte oder ein Schweige-Seminar buchte. Aber nie hatte mir zu verstehen gegeben, dass ich mir zu viel rausnehmen würde, ganz im Gegenteil.
Ich musste ihm einfach endlich glauben, dass es okay ist, Zeit für mich zu haben. Damit mir das leichter fällt, hatte er mir noch einmal ausdrücklich versichert, dass er mir sagen würde, wenn es für ihn nicht stimmte. Und ich hatte ihm versprochen, dies ebenfalls zu tun. Unmissverständliche Kommunikation ist hier der Schlüssel zur Freiheit. Oder zumindest zu einigen Stunden qualitativ hochwertiger Me-time.
Kunst des Annehmens
Ich übe mich nun fortan in der Kunst des Annehmens. Und des Geniessens. Wenn ich ausgehe, bleibe ich so lange, bis es mir verleidet. Übernimmt mein Mann die Nachtschicht, mache ich meine Ohrstöpsel rein, damit ich nichts höre. Wenn ich mit ausschlafen dran bin, tue ich das, bis ich wirklich aufstehen mag.
Eine grossartige Übungsanlage war das Wochenende mit meinen Freudinnen in Kopenhagen. Drei Tage und zwei Nächte weg. Im Flugzeug wiederholte ich Mantra-mässig: Es ist okay. Ich geniesse es. Meine Männer schaffen das ohne mich.
Und siehe da: Ich genoss meine Freiheit wie eine Kuh die Wiese nach einem Winter im Stall. Offline-Shopping, viel Tratschen und Lachen und Apéro am frühen Nachmittag. Leicht einen Sitzen und keine Termine – es war herrlich.
Die Kolumne von Michelle de Oliveira erschien zuerst auf dem Anyworkingmom-Blog. Die Journalistin ist Social-Media-Redaktorin, Yogalehrerin und immer auf der Suche nach Balance – und zwar nicht nur auf der Yogamatte.
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