Mehr Glück, weniger KilosAchtsamkeit: Der perfekte Schlüssel zu mehr Zufriedenheit?
Marjorie Kublun
13.7.2018
Am Begriff «Achtsamkeit» kommt man heute nicht mehr vorbei. Wer jedoch denkt, es handle sich dabei um eine Form der Selbstoptimierung, irrt, sagen Laura Milojevic, Psychotherapeutin und Mindful Self-Compassion-Lehrerin aus Wien, und Monica Kissling, Astrologin aus Zürich. Ein Interview.
Ich treffe Monica Kissling und Laura Milojevic an einem prächtigen Sommertag auf der Terrasse eines Cafés in Zürich unter Schatten spendenden Bäumen. Als ich eintreffe, sind die beiden Frauen noch mit einem anderen Journalisten im Gespräch.
Kein Wunder, denn sie vermarkten gerade ihr gemeinsames Seminarprogramm «Zeit & Achtsamkeit». «Heute geht es nicht ganz achtsam zu», scherzt Monica Kissling und lacht.
Bluewin: Frau Milojevic und Frau Kissling, können Sie bitte erklären, was Achtsamkeit für Sie genau ist?
Laura Milojevic: Mit Achtsamkeit ist eine bestimmte Qualität unserer Aufmerksamkeit gemeint. Die am meisten zitierte Definition für Achtsamkeit stammt von Jon Kabat-Zinn, dem Begründer der achtsamkeitsbasierten Stressreduktion. Er beschreibt Achtsamkeit als «Bewusstheit im gegenwärtigen Moment ohne zu urteilen». Simpel ausgedrückt ist die Achtsamkeitspraxis eine Form von mentalem Training, bei dem man lernt, die eigene Erfahrung im gegenwärtigen Moment besser wahrzunehmen. Was erlebe ich gerade wirklich? Welche Gedanken, Gefühle oder Körperempfindungen sind präsent? Was passiert, wenn ich plötzlich verärgert oder traurig bin? Wie entstehen meine schwierigen Gedanken? Letztlich wie tickt mein Geist?
Monica Kissling: Achtsamkeit hilft, bei sich anzukommen und ganz im Moment präsent zu sein. Dadurch wirkt sie sich auch positiv auf die Qualität unserer Beziehungen aus.
Im kommenden Spätsommer startet ihr gemeinsames Seminarprogramm «Zeit & Achtsamkeit». Was sind das für Menschen, die ihre Seminare besuchen?
Kissling: Mein Seminar «Zeit finden für das Wesentliche» besuchen Menschen, die mit ihrer Zeit- und Lebensgestaltung nicht zufrieden sind. Es sind Menschen, die das Gefühl haben, sie kommen kaum oder nie zu dem, was ihnen wirklich wichtig ist. Es gibt aber auch Menschen, die viel Zeit haben, aber Schwierigkeiten, diese zu strukturieren. Wenn äussere Strukturen, wie feste Arbeitszeiten, wegfallen, müssen wir uns selber eine gute Struktur geben. Darüber hinaus brauchen wir auch Zeiten der Musse. Sonst geraten wir schnell aus dem Gleichgewicht.
Sind es eher Männer oder Frauen, die Sie beraten?
Kissling: Es kommen Frauen und Männer. Wobei das Seminar «Achtsam essen» doch eher Frauen anspricht, da sie meist mehr mit ihrem Gewicht kämpfen und sich viel stärker über das Thema «Aussehen» definieren. Darum sind sie oftmals auch unzufriedener. Es gibt Männer, die grosse Bierbäuche haben aber überhaupt kein Problem damit haben, während Frauen da viel selbstkritischer sind.
Achtsamkeit ist aktuell ein grosses Thema. Aber ist es vielleicht trotzdem nur ein Trend, der bald wieder verschwinden wird?
Milojevic: Es wurde zum Trend, den Begriff zu verwenden. Aber die Achtsamkeit als Thema wird sicher länger relevant bleiben.
Kissling: Achtsamkeit ist kein Trend. Es ist eher eine Zeiterscheinung, da viele Menschen mehr oder weniger Probleme haben, bewusst mit Zeit umzugehen. Man kann oder muss heute so vieles gleichzeitig tun. Zusätzlich setzt uns die ständige Erreichbarkeit durch das Smartphone und das Internet noch mehr unter Druck.
Sie denken also, dass das Thema noch mehr an Bedeutung gewinnen wird?
Kissling: Ja, davon bin ich überzeugt. Wir müssen immer mehr leisten und stellen immer höhere Ansprüche an uns selbst. Auch die Ansprüche der Gesellschaft werden immer grösser. «Digital Detox» ist heute nicht umsonst in aller Munde: Gezielt das Handy ausschalten, um ganz im Moment präsent zu sein. Wer nonstop online ist, spürt seine körperlichen und seelischen Bedürfnisse mit der Zeit nicht mehr gut; es droht ein Burnout.
Zeit ist ein kostbares Gut. Wie kann man mit Achtsamkeit Zeit gewinnen?
Kissling: Wie man die Zeit erlebt, hängt von der persönlichen Situation und der eigenen Wahrnehmung ab. Das kennen wir alle: Bei Stress erleben wir die Zeit völlig anders als in ruhigen Zeiten. Durch Achtsamkeit oder Meditation können wir die Zeit «dehnen». Wir gewinnen Zeit, weil wir sie anders wahrnehmen.
Ist Achtsamkeit eine Verbesserungstechnik?
Milojevic: Es geht uns definitiv nicht um Selbstverbesserung. Das ist nicht das Ziel der Achtsamkeit. Der Begriff wird leider oft missverständlich verwendet. Achtsam sein heisst nicht, sich selbst zu optimieren. Das ist so ziemlich das Gegenteil von Achtsamkeit.
Können Sie mir eine Achtsamkeits-Übung verraten, die ich sofort in meinen gestressten Alltag einbauen kann?
Milojevic: Ja, die «Achtsamkeitsglocke» zum Beispiel. Dabei nützen Sie jedes Signal, sei es das Läuten Ihres Telefons, ein Autohupen oder einer Kirchenglocke, um drei Atemzüge bewusst wahrzunehmen.
Kissling: Mich persönlich entspannt, wenn ich zehn Minuten früher bei Terminen erscheine, als vereinbart. Es ist eine ganz andere Qualität im Alltag, wenn man nicht ständig gehetzt von Termin zu Termin eilen muss.
Milojevic: Und genau darum geht es bei der Achtsamkeit: Dinge bewusst wahrzunehmen. Wenn ich zum Beispiel in meiner Praxis einem neuen Klienten die Tür öffne, atme ich, während ich die Türklinke in der Hand halte, einmal bewusst tief durch und stelle mich darauf ein, eine neue Person zu begrüssen.
Heisst das konkret: Multitasking ist schlecht?
Kissling: Es ist nicht schlecht, es funktioniert einfach nicht. Die Wissenschaft zeigt, dass das menschliche Gehirn dafür nicht angelegt ist. Es kann immer nur auf eine Sache fokussieren. Wenn wir es doch versuchen, sind wir nicht vollständig präsent, nicht konzentriert. So passieren mehr Fehler.
Wie schwer ist es denn, sich von bestimmten Mustern zu befreien? Dass ich mich zum Beispiel nicht ärgere, wenn mich eine Person ewig lang warten lässt?
Milojevic: Es ist individuell sehr verschieden, solche Muster zu verändern. Und es kommt sehr auf die eigene Lebensgeschichte an. Niemand kann verhindern, dass schwierige Gedanken oder Gefühle auftauchen. Was wir aber ändern können, ist, wie wir darauf reagieren. Wir können lernen zu entscheiden, ob wir bestimmte Gedanken weiterverfolgen möchten oder uns lieber davon distanzieren und sie loslassen, weil sie uns einfach nicht gut tun.
Kann man durch die Achtsamkeitspraxis messbare Ergebnisse erzielen?
Milojevic: Interessant ist in der Tat, dass man bei Teilnehmern von achtwöchigen «Achtsamkeits-Kursen» bereits Unterschiede feststellen konnte. Bereits in dieser kurzen Zeit konnte man Veränderungen im Gehirn nachweisen. Man spricht hier von der Neuroplastizität des Gehirns: Das bedeutet, dass sich Gehirnstrukturen in Abhängigkeit vom eigenen Verhalten verändern können. Je komplexer die Thematik ist, an der ich etwas ändern möchte, desto mehr Praxis benötige ich. Die Veränderungen werden aber auch spürbar, sind also nicht nur im Gehirn nachzuweisen.
Grundsätzlich gefragt: Sollte man manchmal egoistischer handeln, damit es einem besser geht?
Kissling: Zu sich selbst schauen, heisst nicht egoistisch sein. Es ist die Voraussetzung dafür, mitfühlend mit anderen Menschen umzugehen. Wenn ich besonders hart zu mir bin oder mir nichts gönne, überträgt es sich meist auch auf andere.
Können Sie erklären, wie Sie durch das Seminar «Achtsames Essen» Erfolge verzeichnen können, wenn Sie sich dabei nicht – wie bei klassischen Abnehmprogrammen – mit Kalorien und Diäten befassen?
Milojevic: Beim achtsamen Essen geht es nicht um ein konkretes Ziel, sondern darum, dass man wieder Freude am Essen hat. Erfolge definieren die Teilnehmer für sich selber. Es gibt keine Versprechungen wie bei klassischen Abnehmprogrammen.
Können Sie uns einen Tipp geben, wie man es schafft, ohne Frust abzunehmen?
Milojevic: Es geht um die innere Haltung, wenn man abnehmen will. Denn der Frust entsteht oftmals dadurch, dass ich bestimmte, oft sehr strenge und überhöhte Erwartungen habe, die gar nicht erfüllt werden können. Auf dem Weg zu einem langfristigen Ziel hilft ein wohlwollender, verständnisvoller Zugang dabei, auch die kleinen Erfolge wertzuschätzen und anzuerkennen. Ein freundlicherer Umgang mit sich selbst kann möglichem Frust viel entgegenwirken.
Kritiker sagen, durch Achtsamkeit werde ein Mensch egozentrischer statt offener und ruhiger.
Milojevic: Die Forschung sagt etwas anders. Menschen, die mitfühlender sind, sind definitiv nicht egozentrischer. Vielmehr werden sie sich ihrer selbst besser bewusst und können sowohl zu ihren Stärken als auch zu ihren Schwächen stehen. Anderen Menschen gegenüber sind sie empathischer und mitfühlender und werden von ihren PartnerInnen als sehr fürsorglich und unterstützend erlebt.
Ich gehe gerne Joggen. Ist das eine Form der Achtsamkeit oder eher eine Art Ablenkung?
Kissling: Das Entscheidende ist, mit welcher inneren Haltung ich etwas tue. Laufe ich, damit ich mich verausgaben und alles nur vergessen möchte oder jogge ich, um mich ganz bewusst zu spüren und Stress abfallen zu lassen? Achtsamkeit ist eine Haltung.
Seminarprogramm «Zeit & Achtsamkeit»
In ihrem Seminarprogramm legen Astrologin Monica Kissling und Psychotherapeutin und Mindful Self-Compassion-Lehrerin Laura Milojevic den Fokus auf einen achtsamen, entspannten und erfüllenden Umgang mit der Zeit sowie auf einen liebevollen Umgang mit sich selbst. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erfahren, wie sie aus Stressmustern und schädlichen Gewohnheiten aussteigen können, um ganz im Hier und Jetzt präsent zu sein. Geist und Seele dürfen sich entspannen, aber auch der Körper darf zur Ruhe kommen. Stress und seelische Belastungen wirken sich auch auf das Essverhalten aus, deshalb zeigen Kissling/Milojevic in ihrer neuen Seminarreihe «Achtsam essen», wie Sie zu einem guten Körpergefühl finden.
Das Seminarprogramm startet im Spätsommer 2018. Die Veranstaltungen finden in Rüschlikon/ZH und Männedorf/ZH statt, weitere Infos zu Themen und Terminen finden Sie unter folgendem Link.
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