KolumneMütter und Väter, zeigt her eure Verletzlichkeit
Von Michelle de Oliveira
2.6.2019
Die Wissenschaftlerin Brené Brown plädiert für mehr Verletzlichkeit und weniger Scham. Als Mutter muss ich genau das lernen: Nicht perfekt sein zu wollen und meine Verletzlichkeit nicht zu verstecken.
Mit meinem tobenden Sohn unter dem Arm und tränennassem Gesicht ging ich durch das Affenhaus im Zürcher Zoo. Mir war, als befände ich mich anstelle der Affen hinter der Glasscheibe, als sei ich der Grund für die zahlreichen Besucher an diesem Mittwochnachmittag.
Ich fühlte mich beobachtet: Was macht das Menschen-Weibchen als nächstes mit seinem Jungen? Bekommt es die Situation in den Griff? Und hat es etwa wieder einen dicken Bauch? Dabei war das Weibchen offensichtlich bereits mit dem ersten Wurf überfordert.
Tatsächlich war ich überfordert. Mein Sohn schlug mich seit einiger Zeit bei jeder Gelegenheit, am liebsten ins Gesicht. Auch jedes Kind, das sich ihm auf Armlänge näherte, drangsalierte er. Ich konnte ihn keine Sekunde aus den Augen lassen.
Zeigt euch verletzlich!
Ich zweifelte mich als Mutter an: Was hatte ich falsch gemacht? Wie konnte ich bereits in den knapp zwei Jahren seines Lebens derart versagt haben? Wie sollte ich noch Kapazität haben für ein zweites Kind? Und ich schämte mich. Ich schämte mich so sehr.
Am gleichen Abend schaute ich mir das Netflix-Special der US-amerikanischen Wissenschaftlerin Brené Brown an. Ihr Forschungsgebiet: Verletzlichkeit und Scham. Ihr TED Talk wurde über 40 Millionen geklickt, und nun hatte sie eine Sendung auf Netflix. Und traf bei mir ins Schwarze, als sie sagte: «Scham ist das Gefühl: Ich bin nicht gut genug.»
Ihr Credo «Zeigt euch verletzlich!» ist für Eltern ein wichtiger Denkanstoss, finde ich.
Denn: Mit einem schreienden Kind in der Öffentlichkeit in Tränen auszubrechen, ist fern von der Instagram-Bubble, in der wir uns so gerne präsentieren. Selbst wenn wir versuchen, dort so authentisch wie möglich zu sein: Wir haben die Situation unter Kontrolle, wissen genau, wie viel wir preisgeben wollen.
Das ist keine Verletzlichkeit, sagt Brown. Verletzlichkeit passiert dann, wenn wir die Kontrolle über die Situation, das Resultat verloren haben. Und wieso soll das gut sein?
«Menschen, die sich ihrer Verletzlichkeit stellen, können eher positive Gefühle erleben», sagt Brown. «Wir haben Angst, dass andere uns ablehnen, sobald sie wissen, wie es in unserem Inneren aussieht. Es erfordert Mut, seine Schattenseiten zu zeigen. Aber nur wer sich verletzlich zeigt, erfährt Verbundenheit und kann die eigene Scham überwinden.»
Es gibt keinen Mut ohne Verletzlichkeit
Mit etwas Abstand zum Besuch im Affenhaus im Zürcher Zoo war mir klar, dass ich für die anderen Eltern nicht halb so interessant war, wie ich in dem Moment geglaubt hatte. Manche haben sich vielleicht innerlich auf die Schulter geklopft, dass so etwas bei ihnen nicht vorkommt. Aber ich hoffe, dass einige gedacht haben: Puh, anderen passiert das auch!
Schlussendlich sind wir alle als Eltern, jaals Menschen, immer mal wieder überfordert. Das zuzugeben, ist in unserer Gesellschaft aber nicht vorgesehen, gilt als Versagen. Dabei könnten wir uns das Leben so viel leichter machen, würden wir diesen Leistungsdruck ablegen, stets alles im Griff und unter Kontrolle haben zu müssen.
Darum: Mütter und Väter, zeigt her eure Verletzlichkeit. Brené Brown sagt: «Erzählen Sie mir von einer mutigen Handlung oder Entscheidung, die Sie miterlebt oder initiiert haben, die nicht ein hohes Mass an Risiko, Unsicherheit und emotionaler Blossstellung mit sich führte. Gibt es nicht. Es gibt keinen Mut ohne Verletzlichkeit.»
Und Kinder grosszuziehen verlangt ein grosses Stück Mut. Vor allem den Mut, imperfekt zu sein.
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