Kolumne «Keine Zeit, bin Rentner!» – wenn das frühe AHV-Alter ein Fluch ist

Von Marianne Siegenthaler

28.10.2019

Wer nicht mehr arbeitet, ist seine Pflichten los. Das kann zum Problem werden.
Wer nicht mehr arbeitet, ist seine Pflichten los. Das kann zum Problem werden.
Bild: Getty Images

Erst können sie es kaum erwarten, dem Erwerbslebens Adieu zu sagen. Doch kaum pensioniert, geht es weiter mit der Hektik. Denn nur so entkommen Rentnerinnen und Rentner der drohenden Langeweile.

Woran merkt man, dass man älter wird? Klar, an den Falten. An den Haaren, die im besten Fall grau werden, im schlechtesten ausfallen. Aber auch daran, dass etwas ältere Freunde und Kollegen pensioniert sind. Frühpensioniert meistens. Und es geht ihnen blendend. Angeblich.

Sie zählten, die Stunden, bis es endlich so weit war: Der allerletzte Tag im Stollen. Nie mehr um halb acht im überfüllten Zug stehen müssen. Nie mehr das Menü 2 in der Mensa. Nie mehr Ärger mit dem Chef. Oder mit den Kunden. Oder mit beiden. Endlich frei vom Joch der Erwerbsarbeit.

Manche Menschen empfinden offenbar das Arbeitsleben als eine Art Sklaverei.

Sie quälen sich Jahre oder gar Jahrzehnte lang durch ihren Arbeitsalltag, einziger Lichtblick ist die Pensionierung. Und je älter sie werden, desto weniger ist eine Alternative, also Jobwechsel oder Umschulung oder Ähnliches, ein Thema. Es wird einfach nur noch durchgehalten bis zum Tag X, dem letzten Arbeitstag.

Frühe Rente schadet der Gesundheit

Doch die Vorstellung, dass mit dem Abschied aus der Arbeitswelt ein schöneres Leben beginnt, ist oftmals falsch. Das hat eine Studie mit Daten aus elf Industrieländern ergeben. Das Resultat: Frühe Rente schadet der Gesundheit und reduziert die Lebensfreude. 

Aber wer gibt denn schon gern zu, dass die tägliche Routine fehlt? Dass man den Austausch mit den Arbeitskollegen vermisst? Das Gefühl, dass man was geleistet hat? Erfolgserlebnisse? Keiner.



Es gibt offenbar Dinge, über die man als Rentnerin oder Rentner nicht spricht. Dazu gehört auch die Langeweile. Und die kann sogar krank machen. Psychologen kennen das Phänomen unter dem Begriff Bore-out, abgeleitet vom englischen Wort Boredom für Langeweile. Und es trifft eben häufig auch Pensionierte.

Manchen ist das sehr wohl bewusst – oder sie beobachten das Phänomen bei ihren gelangweilten Freunden, Bekannten und Verwandten. Die kaum wissen, wie sie den Tag über die Runden bringen sollen. Aber nicht mit mir, sagen sie sich. Also begeben sie sich auf die Flucht.

Es gibt noch viel zu tun

Fluchtfahrzeug ist wahlweise das Kreuzfahrtschiff, das Flugzeug – am allerliebsten aber der Camper. Im Wohnmobil schläft man im eigenen Bett, hat das Aromat jederzeit zur Hand und ist trotzdem mobil. Und man trifft unterwegs viele Gleichgesinnte. Denn es gilt, eine ganze Liste von Reisezielen abzuarbeiten, solange man noch fit genug dafür ist. Nordkap, Route 66, irgendeine afrikanische Wüste – kurz: Es gibt noch viel zu tun.



Und kaum ist man wieder zu Hause, bricht erneut Hektik aus. Denn nach der Reise ist vor der Reise, und da gibt es doch allerhand vorzubereiten. Noch schnell einen Crash-Sprachkurs besuchen. Den Garten auf Vordermann bringen. Den Papierkram erledigen. Und bald schon wieder Packen.

Da bleibt keine Zeit für Musse, fürs Nichtstun, für spontane Aktivitäten – also genau für das, worauf man sich als (Früh-)Rentner gefreut hat.

Kurz: Man wechselt von der Job-Zwangsjacke praktisch nahtlos über zur Pensions-Zwangsjacke. Und wird so dem Slogan gerecht, der auf dem T-Shirt prangt, das man von den Arbeitskollegen zum letzten Arbeitstag bekommen hat: «Keine Zeit, bin Rentner!»

Zur Autorin: Marianne Siegenthaler ist freie Journalistin und Buchautorin. Wenn sie grad mal nicht am Schreiben ist, verbringt sie ihre Zeit am liebsten im, am und auf dem Zürichsee.

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