Kolumne Depression im Alter – die schlimmste Hoffnungslosigkeit

Von Christoph Held

19.8.2019

Die Häufigkeit von Altersdepressionen macht bei allem medizinischen Fortschritt eben deutlich, dass Altern immer noch grosse körperliche und seelische Verletzlichkeit mit sich bringt.
Die Häufigkeit von Altersdepressionen macht bei allem medizinischen Fortschritt eben deutlich, dass Altern immer noch grosse körperliche und seelische Verletzlichkeit mit sich bringt.
Bild: Getty Images

1968 – das muss doch erst gestern gewesen sein! Aber dann die Erkenntnis: Was, schon so alt? Und so schnell alt geworden? Wenn «Babyboomer» im Alter depressiv werden.

Von den schlimmen Symptomen der Depression ist die Hoffnungslosigkeit am schlimmsten. Hoffnung haben bedeutet, noch eine zukünftige Zeit zu haben, die möglicherweise Heilung oder zumindest Verbesserung bringen wird. Selbst der sterbende Patient hofft noch auf Linderung seiner Schmerzen oder auf den baldigen Tod.

«Den Stillstand der Zeit habe ich als eines der quälendsten Symptome meiner Krankheit erfahren», schrieb der Psychiater P.C. Kuiper in seinem Buch «Seelenfinsternis» über die Depression, die er im Alter von 60 Jahren durchmachte. «Wenn ich auf die Uhr schaute, waren zweieinhalb Minuten vergangen, während es nach meiner Einschätzung eine Stunde gewesen war.»

Der depressive Mensch tritt qualvoll auf der Stelle, weil die Vergangenheit, die er nicht vergessen kann, sich ihm als Last, Versagen und untilgbare Schuld aufdrängt. Medikamente können zwar helfen – oft wirken sie jedoch erst nach Wochen und leider nur bei einem Teil der Betroffenen.



Je älter wir werden, desto enger wird der Zeitraum von Hoffnung und Zuversicht, dass es wieder besser kommt mit einer schmerzhaften Krankheit, mit einer Sehschwäche, einer Gangunsicherheit oder mit Angst. Freunde und Bekannte ziehen sich zurück oder sterben, die Jahrzehnte lang gemietete Wohnung muss verlassen werden, weil sie renoviert und dann teuer verkauft werden soll.

Kein Wunder ist die Depression eine der häufigsten Krankheiten im Alter. Sie gehört zusammen mit der Demenz zu den «geriatrischen Riesen», die uns ereilen und packen können, wenn wir nur alt genug werden.

Warum wird diese traurige Gewissheit thematisiert in einer Kolumne, die umgeben ist von unzähligen Empfehlungen zur Selbstoptimierung im Alter, zum Konsum und zum nicht enden wollenden Ringen um Selbstbestimmung?

Gerade die Generation der sogenannten «Babyboomer» führt ja diesen Kampf manchmal fast verbissen. 1968 – das muss erst gestern gewesen sein! Schon alt? So schnell? Wie kann das sein?



Die Häufigkeit von Altersdepressionen macht bei allem medizinischen Fortschritt eben deutlich, dass Altern immer noch grosse körperliche und seelische Verletzlichkeit mit sich bringt.

Bemerkenswert und vielleicht auch eine Folge von 1968 ist, dass «Babyboomer», die sich im Alter in eine Gemeinschaft begeben haben – das ist heute in ganz unterschiedlichen Wohn- und Lebensformen möglich, nicht zuletzt in den oft geschmähten Alterszentren – nicht selten eine psychische Widerstandsfähigkeit entwickeln.

Indem sie, anstatt auf absoluter Unabhängigkeit zu bestehen, ihre Lebenserfahrung mit anderen teilen oder ihre Aktivitäten auf eine jüngere Generation beziehen, gelingt es ihnen oft besser, eine positive Lebensperspektive zu bewahren – also Hoffnung.

Christoph Held ist Heimarzt, Gerontopsychiater und Buchautor in Zürich.

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