Krimibestseller-Autor Sebastian Fitzek «Die Meisten sterben zwischen zwei und fünf Uhr morgens»

Carlotta Henggeler

12.10.2024

Der Berliner Autor Sebastian Fitzek in seinem Arbeitszimmer. 
Der Berliner Autor Sebastian Fitzek in seinem Arbeitszimmer. 
Keystone

Mit seinen Psychothrillern wie «Das Kalendermädchen» blickt Sebastian Fitzek tief in die menschlichen Abgründe. Im Gespräch mit blue News erzählt er, warum seine Bücher wie Therapie sind – und warum er True Crime lieber meidet.

Carlotta Henggeler

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Sebastian Fitzek, Meister des Psychothrillers, verarbeitet seine tiefsten Ängste durch das Schreiben. Im Interview verrät er, warum er True Crime meidet.
  • Der Bestseller-Autor hat über 20 Bücher geschrieben. Was ihn antreibt? «Der Tod, die eigene Sterblichkeit», sagt er. 
  • Sebastian Fitzek hält mit seiner Lesetour am 6. Dezember 2024 in der St. Jakobshalle in Basel. Infos und Tickets findest du hier

Herr Fitzek, in Ihren Büchern blickt man direkt in die Seele von Psychopathen, wie in Ihrem neuen Buch «Das Kalendermädchen» (Veröffentlichung: 23.10). Wie schaffen Sie es, in diese Abgründe zu schauen? Gehen Sie in Therapie?

Supervision? Nein, meine Bücher sind meine Therapie. Wenn ich von Kindesmisshandlungen höre oder sehe, dass in 90 Prozent der Fälle die Täter aus dem nahen Umfeld kommen, macht mir das Sorgen, und ich denke an meine eigene Familie. Bei fünf Kindern muss man solche Ängste verdrängen. Aber wenn das nicht mehr geht, schreibe ich mir diese Sorgen von der Seele. Früher dachte ich, ich schreibe sie weg, aber das stimmt nicht. Ich verarbeite sie – sie bleiben präsent. Durch das Schreiben gebe ich meinen Sorgen aber Struktur, so bin ich ausgeglichen.

Sie wurden schon früh durch die Sendung «Aktenzeichen XY … ungelöst» traumatisiert, habe ich gelesen. Verbieten Sie das TV-Format jetzt Ihren Kindern?

Meine Kinder sind zwischen zwei Wochen und 14 Jahre alt. «Aktenzeichen XY ...» würde sie nicht interessieren, zumindest die Älteren nicht. Ausserdem würden sie es zu harmlos finden. True Crime oder soziale Netzwerke sind für sie auch kein Thema. Die Älteste liest viel und möchte Autorin werden, allerdings im Bereich New Romance. Die Jungs lesen Mangas. Am ehesten hätte ich Angst, dass sie True-Crime-Dokus auf Netflix schauen – die sind heute deutlich verstörender als «Aktenzeichen XY …».

Schauen Sie True-Crime-Dokus?

Selten, die letzte war über Jeffrey Dahmer. Nach jeder Folge habe ich mich gefragt, warum ich das überhaupt schaue. Bei Fiktion weiss ich, dass alles überspitzt und abgewandelt ist – da muss ich mir keine Gedanken machen, dass es real ist. Aber eine True-Crime-Doku wurde – da machen wir uns nichts vor – für Unterhaltungszwecke erstellt. Mich an echtem Leid zu ergötzen und es zur Unterhaltung zu konsumieren, damit habe ich meine Probleme.

Ihr letztes Buch «Die Einladung» hält zum Schluss einige überraschende Wendungen parat. Besteht beim Schreiben die Gefahr, sich zu verzetteln?

Zu Beginn nehme ich mir drei bis vier Monate Zeit, in denen ich täglich am ersten Entwurf arbeite – egal, ob Geburtstage oder Weihnachten dazwischen liegen. Dabei lese ich die letzten zehn Kapitel immer wieder, um tief in der Geschichte zu bleiben. Ein Psychothriller ist oft komplex, denn mein Ziel ist es, die Verwirrung, die die Hauptfigur erlebt, auch beim Leser entstehen zu lassen, sodass man sich dennoch mit der Figur identifizieren kann. Mir ist bewusst, dass das verwirrend sein kann, aber ich empfinde es nicht so, da ich mitten in der Geschichte stehe. Wenn man den Thriller zum ersten Mal liest – und vielleicht schnell liest und manches überblättert, weil es so spannend ist – kann es vorkommen, dass man etwas verpasst. Das sehe ich jedoch als positives Zeichen.

Ihre Fans wissen, die meisten Menschen sterben um drei Uhr morgens. Warum?

Statistiken zeigen, dass die meisten Menschen zwischen 2 und 5 Uhr morgens sterben, weil der Kreislauf zu dieser Zeit am niedrigsten ist. Der genaue Zeitpunkt wurde noch nicht ermittelt, zumindest nicht dokumentiert. Zum Glück sterben die meisten im Bett und nicht in den Fängen eines Psychopathen. Meine Fans wissen das vielleicht, weil ich einen Podcast gemacht habe, der heisst «3 Uhr 29 – Fitzeks Todesstunde».

Lesen Sie für die Recherche Ihrer Bücher viele Statistiken?

Statistiken weniger, obwohl ich weiss, dass im Psychologiestudium viel damit gearbeitet wird. Ich bin da eher noch der Jurist – mich fasziniert nicht die harte Wissenschaft, sondern das Geschichtenerzählen, das auch Juristen lernen. Meine Arbeit konzentriert sich oft auf Menschen, vor allem auf Opfer, die leider viel häufiger anzutreffen sind als Täter. Ich bin mir sicher, dass jeder in seinem Umfeld ein Opfer kennt – sei es durch eine kleinkriminelle Tat oder einen Einbruch, der psychische Traumata hinterlassen kann. Auch Misshandlungen oder häusliche Gewalt sind weit verbreitet. Psychische Störungen wie Panikattacken oder Depressionen betreffen viele Menschen, glücklicherweise wird immer offener darüber gesprochen. Es ist gut, dass dieses Thema enttabuisiert wird

Fast alle Ihre Bücher spielen in Berlin. Brauchen Sie die gewohnte Umgebung, um Ihre Geschichten dort stattfinden zu lassen?

Jein. Meine allererste Version von «Die Therapie» spielte an der Ostküste der USA. Mein Agent – als er noch gar nicht mein Agent war – hat das Manuskript gelesen und gesagt: «Man merkt, da ist viel Talent, aber auch Anfängerfehler. Warum spielt die Geschichte in den USA?» Psychothriller sollten dort spielen, wo sich der Autor auskennt. Also habe ich darüber nachgedacht und die Geschichte nach Berlin verlegt, weil ich mich hier auskenne.

Sehr interessant, danke für den Tipp.

Und Authentizität ist wichtig, auch in einer fiktionalen Geschichte. Eine fiktionale Geschichte ist im Grunde eine Lüge – und jede gute Lüge hat einen wahren Kern. Das Fundament ist die Recherche und die Erfahrung des Autors, und das spürt der Leser und die Leserin. Wenn ich eine Geschichte in der Schweiz ansiedeln würde, müsste ich sie aus der Perspektive eines Nicht-Schweizers erzählen, weil ich mich dort nicht auskenne. Das würde man merken. Mit Berlin mache ich es mir leichter, aber Berlin ist auch eine Stadt, in der man auf Menschen aller Art trifft. Man hat hier alles – ausser Berge und Meer. Berlin ist eine Stadt, in der seltsame Geschichten passieren können, ohne dass sich jemand wundert.

Wobei man sich durchaus wundern kann, was manchmal in Kleinstädten an Bösem passiert.

Hundert Prozent. Mein nächstes Buch, «Das Kalendermädchen», das am 23. Oktober erscheint, spielt in einem Häuschen im Frankenwald, und «Die Einladung» spielte an der deutschen Grenze.

Ihre Bücher sind alles Bestseller. Was machen Sie besser als die Konkurrenz?

Zunächst sehe ich das nicht als Konkurrenz, und ich glaube auch nicht, dass mich die anderen so wahrnehmen. Wir tauschen uns regelmässig aus, zum Beispiel mit Romy Hausmann, Marc Raabe oder Bernhard Aichner in Österreich. Es ist ja oft so: Wenn man einen Thriller gelesen hat, greift man gleich zum nächsten. Je mehr Bestseller es gibt, desto besser für die Branche – und auch für mich. Ich hätte nie einen Vertrag bekommen, wenn mein Verlag nicht den Mut gehabt hätte, erstmal 2500 Exemplare meines Buches zu drucken, weil sie zuvor gerade einen Bestseller gelandet hatten.

«Ich hatte meine erste Lesung vor fünf Leuten, drei davon haben für die Buchhandlung gearbeitet»

Das sind interessante Gedanken.

Es gibt ja unheimlich viele Nummer-1-Thriller-Autoren. Mein Glück war, dass mein Erfolg nicht geplant war. Rückblickend hatte ich keine grosse PR- oder Marketingkampagne, kein Hype zu Beginn. Meine erste Lesung war vor fünf Leuten, von denen drei in der Buchhandlung gearbeitet haben. Heute, am Ende meiner Lesetour, darf ich vor 155'000 Menschen sprechen – das ist in den letzten 20 Jahren gewachsen.

Spüren Sie vor dem Erscheinen eines neuen Buches Erfolgsdruck?

Das Gute ist, dass es – anders als bei meinem Bruder, der Arzt ist – nicht um Leben oder Tod geht. Wenn ein Buch floppt, ist das zwar unschön und kratzt am Ego, aber es ist nicht existenziell. Niemand schreibt nur für sich allein, vor allem nicht, wenn man Geschichten erzählen will. Es war ein grosses Glück, dass ich relativ unbeobachtet Erfolg haben durfte, ohne dass jemand Erwartungen an mich gestellt hat. So konnte ich frei und ungezwungen verschiedene Bücher schreiben.

Sie haben über 20 Bücher geschrieben. Sie sind ein Getriebener. Was treibt Sie an?

Der Tod, die eigene Sterblichkeit. Ich rechne in Sommern. Ich bin jetzt 52 Jahre alt und frage mich: Wie viele schmerzfreie Sommer habe ich noch? 30 wären vermessen, das glaube ich nicht. Vielleicht 20 oder 25 Sommer, in denen ich noch verreisen und alles machen kann. Das ist überschaubar. Im Sommer ist man am aktivsten. In dieser Zeit werde ich nicht alle Bücher schreiben können, die ich möchte, und nicht alle Reiseziele erreichen, die ich mir vornehme. Meine nicht vorhandene Bucketlist, die sehr lang wäre, treibt mich an. Sie motiviert mich, in vollen Zügen zu leben und so viele Erinnerungen wie möglich zu schaffen.

Sie sind bald auf Lesetour und machen auch in der Schweiz Halt. Ist eine solche Tour anstrengend?

Ja, sie ist körperlich durchaus anstrengend. Wir touren mit acht Trucks und zwei Nightlinern. Die Show beginnt um 20.03 Uhr, weil wir festgestellt haben, dass es nie pünktlich um 20.00 Uhr losgeht – also haben wir gleich diese Uhrzeit aufs Ticket gedruckt. Ich lese ja nicht nur, es wird auch ein Soundtrack von der siebenköpfigen Band Naturally 7 aufgeführt, laut Internet die beste A-cappella-Band der Welt. Dazu muss ich das Timing der Show einhalten, und nach der Lesung signiere ich oft noch mehrere Stunden. Danach bin ich definitiv ein paar Kilo leichter.

Wer ist der beste Krimi-Autor aller Zeiten?

Gute Frage, die wurde mir so noch nie gestellt. Der beste Horror-Autor aller Zeiten ist für mich eindeutig Stephen King. Bei den Thriller-Autoren stehen für mich Thomas Harris und Michael Crichton gleichauf. Crichton war unglaublich vielseitig – von historischen Zugüberfällen und Piratengeschichten bis hin zu Dino-Wissenschafts- und Ökothrillern sowie der TV-Serie «Emergency Room». Diese Vielseitigkeit habe ich immer bewundert, gepaart mit einer psychologischen Tiefe, die man in den Verfilmungen oft nicht erwartet.


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