Kolumne Generationenkonflikt – lasst die Alten in Ruhe

Von Marianne Siegenthaler

20.4.2020

Jung gleich gut, Alt gleich böse: Wegen der Corona-Pandemie scheint sich der Generationenkonflikt weiter zu verschärfen.
Jung gleich gut, Alt gleich böse: Wegen der Corona-Pandemie scheint sich der Generationenkonflikt weiter zu verschärfen.
Bild: Getty Images

Die Corona-Pandemie verschärft den Generationenkonflikt. Aber die Seniorinnen und Senioren sind nicht an allem schuld, wie die Kolumnistin findet.

Vielleicht erinnern Sie sich, liebe Lesenden: Vor einiger Zeit habe ich eine «Bluewin»-Kolumne unter dem Titel «Hört endlich auf, auf den Alten rumzuhacken» verfasst. Es ging darin um mangelnde Wertschätzung älteren Menschen gegenüber.

Oder anders ausgedrückt: Jung gleich gut. Alt gleich böse. Nun scheint sich aufgrund der Corona-Pandemie der Generationenkonflikt noch verschärft zu haben.

Es ist nur eine kleine Episode, die mir aber zu denken gegeben hat: Am Ostersonntag, jenem wunderbaren Frühlingstag, schraube ich an meinem Motorrad herum. Da fährt ein Senior auf einem E-Bike auf dem Trottoir vorbei und giftelt: «Sie wollen doch nicht etwa mit dem Töff herumfahren?»

Eine Unverschämtheit?

Zuerst bin ich überrascht, dann wütend. Was fällt dem Mann ein? Meint er: Ich soll mich zu Hause einschliessen, damit ich auf keinen Fall verunfalle und niemandem das Bett im Spital wegnehme? Und er fährt ungeniert mit dem E-Bike in der Gegend rum? Dabei gehört er doch zur Risikogruppe. Eigentlich müsste er zu Hause bleiben. Denn auch er könnte vom Velo stürzen – und dann einem Covid-19-Patienten im Spital den Platz rauben.



Und überhaupt: Zum Schutz von gefährdeten Menschen wird fast die gesamte Wirtschaft lahmgelegt. Jobs gehen reihenweise verloren, viele Menschen bangen um ihre Existenz. Das öffentliche Leben findet praktisch nicht mehr statt. Und dann muss ich mir so etwas anhören. Unverschämt!

Jedenfalls bin ich kurz davor, dem Senior tüchtig die Meinung zu sagen. Ihn daran zu erinnern, dass Solidarität keine Einbahnstrasse ist. Und anzusagen: Wenn wir aus Rücksicht auf die Risikogruppe so grosse Opfer auf uns nehmen, erwarten wir, dass auch diese solidarisch ist. Und beispielsweise zu Hause bleibt. Oder zumindest zu Fuss unterwegs ist und sich nicht noch auf dem Velo gefährdet.

Alt, krank und unschuldig

Dann aber kommt mir in den Sinn: Was wäre, wäre ich über 65 Jahre alt und hätte womöglich noch irgendeine Erkrankung? Für beides könnte ich ja nichts, es wäre einfach: Pech.

Nun gibt es ja auch Viren wie zum Beispiel die RS-Viren, die sich in Kinderkörpern besonders wohlfühlen. Oder das Zika-Virus, das schwangeren Frauen gefährlich werden kann. Das Coronavirus wiederum hat es auf die Ü65er abgesehen. Was ich sagen will: Ob jung oder alt, gefährdete Menschen müssen immer geschützt werden.

Leider hat es das Bundesamt für Gesundheit verschlampt, genügend Schutzmaterial wie zum Beispiel Masken bereitzustellen – mehr Bewegungsfreiheit in der Öffentlichkeit wäre möglich gewesen. Denn etwa gemäss Robert Koch-Institut kann das Risiko, eine andere Person durch Husten, Niesen oder Sprechen anzustecken, mit der Maske verringert werden. Aber ohne jeglichen Schutz bleibt halt nur eins: Restez à la maison. Und wenn man doch mal raus muss, dann gilt Social Distancing.



Nur: Die Forderung nach diesen strengen Massnahmen hat ja nicht die «Risikogruppe» gestellt. Der Bundesrat hat mobil gemacht – und eben strengstens empfohlen, dass nicht nur die Gefährdeten zu Hause bleiben sollen. Sondern ALLE. Kein Kontakt, keine Übertragung – für diese Erkenntnis braucht’s nicht mal einen Virologen.

Raus aus der Isolation

Aber komplett einsperren lassen will sich eben niemand. Die Nicht-Risikogruppe ebenso wenig wie die älteren, noch fitten Menschen – die schon gar nicht. Gut möglich, dass wer jetzt zu Hause rund um die Uhr zwei Teenager zu bespassen hat, sich nach etwas Ruhe sehnt.

Doch ein älterer Mensch, der vielleicht allein lebt, fühlt sich nun einmal schnell isoliert. Und um sich ein Stück Lebensqualität zu bewahren, nimmt er halt das Risiko in Kauf und geht auch mal in die Migi, wo er vielleicht auf Bekannte trifft.

Jedenfalls ist es leicht nachvollziehbar, dass auch ein älterer Mensch sein Leben möglichst geniessen will – denn ewig wird dieses ja nicht mehr dauern. Und dazu gehört eben auch, dass er sich mit dem E-Bike auf einen Sonntagsausflug begibt. Wir alle sollten dafür Verständnis haben. 

Zur Autorin: Marianne Siegenthaler ist freie Journalistin und Buchautorin. Wenn sie grad mal nicht am Schreiben ist, verbringt sie ihre Zeit am liebsten im, am und auf dem Zürichsee.

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