Trauerrednerin«Es wird selten so viel gelogen wie auf einer Beerdigung»
Von Andrea Keller
17.4.2021
Christiane Gräber, 60, hat sich nach einer beruflichen Krise selbstständig gemacht. Nun würdigt sie Verstorbene mit einer Trauerrede an deren Beerdigung und feiert das pralle Leben.
Von Andrea Keller
17.04.2021, 00:00
19.04.2021, 08:42
Aufgezeichnet von Andrea Keller
«Der Tag startet mit einem ausgiebigen Frühstück und einer guten Zeitung. Dann gehe ich nach oben in mein Arbeitszimmer, und tauche ein in das Leben eines Menschen, der eben erst gestorben ist. Heute arbeite ich am Nachruf von Herrn K.
Wenn es stockt beim Text, blättere ich in einem der vielen Bücher, die sich auf dem langen, weissen Schreibtisch stapeln: Da liegen ‹Was bleibt› von Susannah Walker, ‹Rot› von Uwe Timm, ‹Der alte König in seinem Exil› von Arno Geiger – und viele andere. Wunderbare Zitate-Lieferanten. Oder ich lege eine Pause ein, putze das Badezimmer, gehe bügeln, mache Tai Ji. Zwischendurch checke ich die E-Mails.
Im Posteingang befindet sich eine neue Nachricht: ‹Hallo, Frau Gräber. Ich habe Sie im Internet gefunden. Hätten Sie am Freitag Zeit für eine Beerdigung in Basel?› Es ist Montag. Ich denke: Upps, das ist sportlich!
Emotionale Extremsituation
Oft sind meine Kundinnen und Kunden in einer emotionalen Extremsituation. Kommt hinzu, dass sich viele unter Zeitdruck wähnen. Bei Erdbestattungen hat man nicht ewig Zeit, klar. Aber Asche wäre im Grunde äusserst geduldig. Trotzdem ist es den meisten ein Anliegen, dass die Abdankung zeitnah stattfinden kann.
«Hallo, Tod!»: Gespräche am offenen Sarg
Vom 25. bis zum 30. Mai 2021 findet «Hallo, Tod!» statt, das schweizweit erste Festival zum Tod. Falls es die Corona-Richtlinien zulassen, bietet Christiane Gräber zusammen mit ihrem Berufskollegen Christian Grichting «Gespräche am offenen Sarg» an.
Am Freitag also. Das schaffen wir. Ich rufe die Absenderin der E-Mail an, erfahre, dass sie ihre heissgeliebte Mutter verloren hat und wir verabreden uns für ein Gespräch. Dann widme ich mich wieder Herrn K., auch seinen Ecken und Kanten. Das ist mir wichtig. Es wird selten so viel gelogen wie auf einer Beerdigung. Aber eine Trauerrede, die einen Verstorbenen zum Heiligen verklärt, wird dem Leben nicht gerecht, und man kann auch für Tabuthemen adäquate, respektvolle Worte finden. Also frage ich: Wie war der Mensch wirklich?
Eigenarten interessieren mich, Skurriles, Reibungspunkte. Ich erinnere mich beispielsweise an einen Austausch mit einer Familie, bei der die Oma gestorben war. Alle waren sehr traurig. Doch irgendwann platzte es aus einer der Enkelinnen raus: ‹Und immer gab’s Suppe! Immer Suppe. Und immer, wenn sie die Suppe gegessen hat, hat sie so laut geschlürft. Das war scheusslich.› Alle erinnerten sich und konnten herzhaft lachen. So war sie eben, die Oma. Kochte und schlürfte Suppe. Immer diese Suppe.
Essen ist ein gutes Stichwort – gehört für mich zum guten Leben mit dazu. Ich koche selbst sehr gern, am liebsten für die Familie, für Freund*innen, meine kleinen Enkel*innen. Aber ich stehe auch immer mal wieder für mich allein in die Küche, über Mittag, zum Beispiel. Heute gibt es Reis und frischen Fisch. Felchen aus dem Zürichsee, den ich vom Fenster aus sehe. Nicht den Fisch, den See. Da hinten, da! Zwischen dem Nussbaum und der Föhre … glitzert er.
Für mich ist eine gelungene Existenz im Grunde wie ein gutes Menü: Es braucht Säure und Hitze und Salz, auch Süsse. Dasselbe gilt für Trauerreden, die Texte über das Leben sind. Nicht über den Tod, auch wenn der die Aufträge auslöst.
Ein wunderbarer, verlässlicher Moment
Was den Tod betrifft, kann ich sagen: Ich weiss nicht, ob ich ihn verstehe. Also in einem philosophischen Sinne. Doch ich empfinde ihn je länger je mehr auch als wunderbaren, auch verlässlichen Moment.
Im Grunde gibt es zwei Fixpunkte im Leben: die Geburt und den Tod. Das finde ich beruhigend. Und ein ewiges Leben, um Himmels willen! Das stelle ich mir fürchterlich vor. Was hätte man da für Falten! Irgendwann wäre man nur noch ein labberiges Gestell, das … Nein, danke. Ich empfinde es als wertvoll, über unser aller Endlichkeit und den Tod reden und nachdenken zu können. Auch in der Familie und mit Freundinnen und Freunden.
Durch meinen Beruf habe ich auch mit Fremden spannende, tiefe Gespräche. Und seit ich mich selbstständig gemacht habe, treibe ich mich oft rum, auch um zu netzwerken, und begebe mich in Situationen, in denen ich mein Angebot vorstellen darf und auch von anderen erfahre, wie sie zu ihren Kundinnen und Kunden kommen. Das ist ungemein spannend – viel spannender als das Inseldasein, das ich an meinem alten Arbeitsort fristete.
In meinem Leben vor der Selbstständigkeit als Trauerrednerin war ich Schulleiterin, Supervisorin und Coach an verschiedenen Schulen in der Schweiz. Zuletzt war ich in einer Festanstellung, die ich aus Sicherheitsgründen gewählt habe, mit dem Gedanken an die Pension. Und die mich in ein Burnout getrieben hat.
Ich konnte tagelang, wochenlang, monatelang nicht schlafen, weil die Situation dort so verfahren war. Irgendwann ging es nicht mehr. Ich hatte danach ein halbes Jahr, um wieder auf die Beine zu kommen. Mit solchen Erfahrungen bin ich nicht allein. Umso mehr geniesse ich es, jetzt selbstständig sein zu dürfen – in einem Job, der zu mir passt, den ich liebe. Und bei dem ich in so viele Geschichten eintauchen darf.
Mein Mann lässt sich ebenfalls Geschichten erzählen, bei seinem Beruf. Er arbeitet als Erziehungs- und Paarberater. Beim Abendessen tauschen wir uns hin und wieder aus. Die Leben, die ich so streife, berühren und beschäftigen mich, aber sie bleiben nicht an mir kleben.
Nach einer Trauerfeier lasse ich die verstorbene Person auch wieder los. Auch um offen zu sein für die nächste E-Mail, den nächsten Anruf, das nächste Leben, das gewürdigt werden will.»
Trauerreden und Abschiedsgestaltung: Christiane Gräber bietet für säkulare Abdankungen ihre langjährige Erfahrung und Kompetenz an, verfasst persönliche Trauerreden, unterstützt die Hinterbliebenen in allen Belangen und entwickelt mit ihnen die Abschiedsfeier.