Machs gut, Grosi Unsere Gesellschaft hat verlernt zu trauern, nicht zu sterben

Von Julia Käser

2.4.2021

Der Tod ist während der Corona-Pandemie allgegenwärtig: Eine kurz verrutschte Maske, eine zufällige Begegnung oder der einmalige Verzicht auf die Seife – und wir werden plötzlich mit der Endlichkeit unseres Seins konfrontiert.
Der Tod ist während der Corona-Pandemie allgegenwärtig: Eine kurz verrutschte Maske, eine zufällige Begegnung oder der einmalige Verzicht auf die Seife – und wir werden plötzlich mit der Endlichkeit unseres Seins konfrontiert.
Bild: Keystone

Weit über 9000 Personen sind in der Schweiz bis jetzt am oder mit dem Coronavirus gestorben. Gesprochen wird über sie dennoch kaum – eine verpasste Chance? 

Von Julia Käser

Knapp 9700 Tote hat es in der Schweiz im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie bis jetzt gegeben. 9700-mal Abschied nehmen. 9700-mal Trauer. Es sind knapp 9700 Menschen, die diese Krise nicht überlebt haben. Meine Grossmutter ist eine davon. 

Wie die meisten Corona-Toten in der Schweiz war auch sie älter als 80 Jahre. Wie rund die Hälfte aller Toten lebte sie in einem Alters- und Pflegeheim. «In zwei, drei Jahren hätten diese Menschen sowieso sterben müssen», mag nun manch einer sagen, oder: «Nicht jeder Tod ist eine Katastrophe.»

Das mag teilweise stimmen. Tatsache ist aber auch, dass es Menschen jenseits ihrer Achtziger gibt, die noch voller Lebenslust steckten und nicht hätten gehen wollen. Tatsache ist auch, dass deren Familien nun für immer auf ein letztes gemeinsames Ostern warten müssen.

Zwar gibt es mittlerweile gute Nachrichten: Die Phase der Übersterblichkeit ist vorbei, wie Zahlen des Bundes verdeutlichen. Die Todesfälle nehmen (auch) dank der bereits verabreichten Impfungen ab. Dennoch bleibt in vielen Familien Trauer zurück.

Geholfen hat alles nichts

Vor gut einem Jahr frage ich an dieser Stelle: «Kann ich meine Grossmutter noch mit gutem Gewissen besuchen?» Eine Wahl hatte ich die längste Zeit über nicht. Das Altersheim, in dem sie zuletzt lebte, war meistens geschlossen oder Besuche waren nur vereinzelt zugelassen – unter Einhaltung der Abstands- und Hygieneregeln. 

Geholfen hat alles nichts. Mitte Dezember hat sich meine Grossmutter mit dem Coronavirus angesteckt. Die Angst um sie war gross, die Verunsicherung wuchs und schliesslich schlich sich unterbewusst auch die Schuldfrage in die Köpfe. Wie konnte es sein, dass das Virus genau dort besonders heftig zuschlug, wo es nie hätte hinkommen sollen?

Der Tod lag in der Luft

Hätten wir meine Grossmutter besser schützen können? Nein. Lange haben ihre Töchter sie zu Hause gepflegt. So lange, wie es nur ging – und bis zuletzt taten sie alles Menschenmögliche dafür, dass es ihr gutging.

Lag der Fehler also im System? Zum Zeitpunkt ihrer Ansteckung war es schliesslich kein Geheimnis mehr, dass im Kanton Bern erkrankte Pflegerinnen und Pfleger bei Personalmangel teils weitergearbeitet hatten. Möglich, aber was hätten sie auch tun sollen? Die Bewohnerinnen und Bewohner mussten schliesslich trotz allem gepflegt werden.

Vorwürfe machen kann man auch den Verantwortlichen des Heims keinesfalls. Die Hygieneregeln wurden zu jedem Zeitpunkt strikt eingehalten und meiner Grossmutter ging es wirklich gut dort. Die Pflegerinnen und Pfleger taten alles, was in ihrer Macht stand und mehr.  Die geleisteten Überstunden waren ihnen anzusehen. Der Tod lag in der Luft. 

Das Virus findet seinen Weg

So war uns schliesslich allen klar geworden, was man in diesen Zeiten nicht wahrhaben wollte: Das Virus findet seinen Weg zu den Risikopatientinnen und -patienten manchmal trotz der penibelsten Einhaltung aller Vorsichtsmassnahmen. Eine kurz verrutschte Maske, eine zufällige Begegnung oder der einmalige Verzicht auf die Seife – und wir werden plötzlich mit der Endlichkeit unseres Seins konfrontiert.

Nachdem sich meine Grossmutter scheinbar vom Coronavirus erholt hatte, ging es ihr plötzlich wieder schlechter. Das Atmen fiel ihr immer schwerer. Trotz Pandemie durften wir uns kurz von ihr verabschieden. Ich bin dankbar, denn diese Möglichkeit hatten viele andere Familien nicht. Kurz nach Weihnachten schlief sie ein, für immer. 

Sterben ist allgegenwärtig 

«Unsere Gesellschaft hat verlernt zu sterben», sagte Bruno Damman, CVP-Regierungsrat aus dem Kanton St. Gallen während der zweiten Pandemie-Welle und kurz vor dem Tod meiner Grossmutter. Hat unsere Gesellschaft nicht vielmehr verlernt zu trauern? Wir sprechen seit Monaten über Ansteckungszahlen und Impfdaten, aber kaum über diejenigen, die wir verloren haben.

Dabei wäre es gerade jetzt umso wichtiger, wo sich viele nicht einmal richtig von den sterbenden Angehörigen verabschieden konnten. Aber unsere Angst und Trauer verstecken sich hinter Zahlen. 

Nein, der Tod ist nicht neu. Auch vor und nach der Pandemie starben und sterben Menschen. Im Jahr 2019 waren es in der Schweiz 67'780 Personen, ein Jahr zuvor 67'088 Personen. Was neu ist, ist die beinahe tägliche Konfrontation mit dem Thema. 

Die letzte Umarmung fehlt 

Es ist und bleibt schwer, dieser Krise etwas Gutes abzugewinnen. Und doch birgt sie die Chance über den Tod sprechen zu lernen. Zusammen zu trauern – ganz egal, ob jemand am, mit oder unabhängig vom Coronavirus gestorben ist. 

Meine Grossmutter ist eine unter bald 10'000, ein dünner Strich auf der langen Liste. Ihr letztes Jahr hat sie viel einsamer verbringen müssen, als sie das gewollt hätte. Es tat weh, sie auf diese Weise gehen lassen zu müssen. Ohne eine letzte Umarmung, ohne ein letztes Lächeln, das sich nicht hinter einer Maske versteckte. Ich hoffe, sie hat es trotzdem gesehen.