Zu wenig, irgendwie nie ganz genug – die Kolumnistin fühlt sich oft unzulänglich, ohne sich dessen immer bewusst zu sein. Bis sie dank einem Podcast lernt, woher das Gefühl rührt und dass es ein Gegenmittel gibt.
Von Michelle de Oliveira
09.04.2022, 17:46
Michelle de Oliveira
Noch schnell die Spielsachen aufräumen, die Wäsche falten, den Text noch einmal überarbeiten, die Wettervorhersage für morgen checken. Auf welchem Spielplatz waren wir schon lange nicht mehr? Oder doch lieber in ein Museum mit Kinderausstellung? Noch zwei Sprachnachrichten und eine E-Mail beantworten.
Irgendwann falle ich todmüde ins Bett. So viel ist geschafft. Und doch liegt das Gefühl, nicht genug gemacht zu haben, neben mir im Bett. Und steht am nächsten Morgen – im Gegensatz zu mir ausgeschlafen – wieder mit mir auf.
Oft bin ich mir dieses Gefühls nicht bewusst, oder ich halte es für normal. Bis ich gleich von mehreren Freundinnen den Link für einen Podcast zugeschickt bekomme. Mit der dringenden Aufforderung, ihn zu hören. Weil: «Er trifft den Nagel auf den Kopf!»
«Gut» versus «Gut genug»
In dieser Folge des «Beziehungskosmos» erläutern die Psychologin Felizitas Ambauen und die Journalistin Sabine Meyer, wie viele Gedanken und Ressourcen dahin investiert werden, vermeintlich nicht gut genug zu sein. Sich zu bemängeln. Sich selbst immer weiter anzutreiben, immer noch mehr geben zu müssen.
Felizitas Ambauen plädiert dafür, etwas eben auch mal gut sein zu lassen und ich höre zum ersten Mal das etwas sperrige Wort «Goodenoughism».
Die Psychologin erklärt, dass «gut» in unserem Sprachgebrauch eher als mittelmässig gilt. «Gut genug» ist sogar negativ behaftet, Faulheit und Versagen schwingen immer mit.
Zur Autorin: Michelle de Oliveira
Bild: zVg
Michelle de Oliveira ist Journalistin, Yogalehrerin, Mutter und immer auf der Suche nach Balance – nicht nur auf der Yogamatte. Ausserdem hat sie ein Faible für alles Spirituelle und Esoterische. In ihrer Kolumne berichtet sie über ihre Erfahrungen mit dem Unfassbaren. Seit Kurzem lebt sie mit ihrer Familie in Portugal.
Meine Reaktion kommt prompt: Ich möchte Dinge sehr gut machen, für mich, meine Familie, meine Freund*innen. Daran ist doch nichts falsch, denke ich. Falsch gedacht! Unter Umständen ist es das eben doch, lerne ich im Podcast.
Denn es gibt einen entscheidenden Unterschied: Will ich etwas sehr gut machen, etwas erreichen, weil mir wirklich viel daran liegt, weil ich selbst diesen Ehrgeiz habe? Oder aber sind es gelernte Glaubenssätze, auch autoritäre Stimme genannt, die mich dazu antreiben? Man muss doch, man kann doch nicht, die anderen würden nie, und so weiter.
Es geht also darum, herauszufinden, woher die Motivation kommt. Von innen oder von aussen. Und dann zu entscheiden: Wo will ich weitermachen und noch mehr Einsatz geben? Und wo ist es gut, so wie es ist? Gut genug eben.
Gebe ich meinen Kindern genug Aufmerksamkeit?
Ich achte in den nächsten Tagen darauf und bin erstaunt darüber, wie oft meine Gedanken darum kreisen, ob es – ob ich! – gut genug bin.
Gebe ich meinen Kindern genug Aufmerksamkeit? War ich zu ungeduldig beim Anziehen? Hätte ich jetzt nicht frisches Marktgemüse zubereiten sollen, anstatt Pasta mit Pesto zu servieren? Hätte ich nicht gründlicher putzen können? Wäre es nicht endlich an der Zeit, ein Bügelbrett zu kaufen und meine Kleider zu bügeln? Gebe ich im Job wirklich genug oder hätte ich mich abends besser noch einmal an den Laptop gesetzt? Für die berühmte Extra-Meile.
Aber wer bestimmt eigentlich, wo diese 1609,34 Meter beginnen? Und noch viel wichtiger: Wo sie enden?
Noch nie bin ich nach Extra-Nachtschichten, Extra-Effort oder Extra-noch-einmal-überarbeiten durch das rote Band gerannt, noch nie habe ich eine Ziellinie überschritten, wurde jubelnd empfangen, niemand hat mir eine Medaille um den Hals gehängt und gesagt: «Herzlichen Glückwunsch, du hast sie geschafft, die Extra-Meile.» Die Extra-Meile ist endlos.
«Es ist gut. Und es ist gut genug»
Mir wird bewusst, wie viele Ressourcen ich sparen könnte, wenn ich manche Dinge einfach mal gut sein lasse. Wie viel unbeschwerte Zeit mir bleiben würde, wenn ich Goodenouhgism in meinen Alltag einbauen könnte. Aber ganz so einfach geht das nicht, ich muss es üben.
Und das bedeutet nicht, gar nichts mehr zu tun oder alles halbbatzig zu erledigen. Ich mag es beispielsweise aufgeräumt. Also tue ich mir keinen Gefallen, sämtliche Spielsachen und Kleider auf dem Boden verstreut liegen zu lassen. Damit ist mir nicht wohl.
Aber ich kann Pasta mit Pesto kochen, ohne schlechtes Gewissen als Zutat. Ich kann mich aufs Bett legen, ein Buch lesen und gelegentlich durch die ungeputzten Fenster nach draussen schauen, ohne zu denken: Die müssten geputzt werden.
Weil sie mich gar nicht stören und ich bloss denke, sie müssten mich stören. Ich kann meine Kleider weiterhin ungebügelt tragen, weil mir damit wohl ist. Und die Kinder freuen sich über den nächstgelegenen Sandkasten oft mehr als über den pädagogisch wertvollen Erlebnispfad eine Autostunde entfernt.
Bei allem Üben des Goodenoughism, eines darf man aber nicht vergessen: Die Strukturen, in denen wir leben, spielen eine gewichtige Rolle. Unser leistungs- und männerorientiertes System macht es besonders Frauen nicht leicht, gut auch wirklich gut sein zu lassen.
Frauen müssen im Vergleich zu Männern noch immer viel mehr leisten, um im gleichen Masse gesehen zu werden. Das bedeutet: Frau muss ganz bewusst nicht wieder den ganzen Druck, dem Leistungsdruck zu entsagen, auf die eigenen Schultern nehmen und dadurch wieder das Gefühl bekommen, es nicht geschafft zu haben.
Ich sage mir nun täglich mehrmals selbst: «Es ist gut. Und es ist gut genug.» Diese Kolumne habe ich übrigens einmal weniger überarbeitet, als ich es normalerweise tun würde.