SchicksalDemenz für Anfänger – das Tagebuch eines Enkelkindes
Von Zora Debrunner
15.8.2019
Ein langsamer Abschied, unendlich liebevoll: Autorin und Bloggerin Zora Debrunner begleitet im Buch «Demenz für Anfänger – Tagebuch eines Enkelkindes» ihre Grossmutter beim Umzug ins Pflegeheim.
Omi Paula war mich wie eine Mutter und während meiner turbulenten Kindheit die wichtigste Bezugsperson. Zusammen erlebten wir Abenteuer auf Reisen, sie tröstete mich nach dem Tod meines Bruders und später meiner Mutter. Meine Ferien habe ich immer bei Omi und Opa im Toggenburg verbracht.
Die Jahre vergehen, Familienangehörige sterben, aber Paula ist noch immer da. Paula ist Mitte 80 und erkrankt an Demenz. Sie vergisst ihre Vergangenheit, weiss aber, dass es da noch einen Menschen gibt, der da ist.
Mit einem Mal habe ich neue Rollen in ihrem Leben: Ich erinnere sie an meine Mutter, ihre Schwester und schliesslich, ganz am Ende an ihre Mamme. Für mich, die Kinderlose, war die Begleitung meiner Omi durch die verschiedenen Phasen der Demenz ein dauerndes Tauchbad der Gefühle, aber auch Reifungsprozess und Besinnung auf meine Familiengeschichte.
Vor sieben Jahren begleitete ich meine Grossmutter ins Pflegeheim. In einer Phase der absoluten Sprachlosigkeit suchte ich nach Worten, um meinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen.
Ich erinnerte mich, dass ich fünf Jahre zuvor, als meine Mutter starb, zu schreiben begann, wenn ich keine Worte mehr fand. Beim Schreiben und Vertwittern meiner Texte stiess ich schnell auf viele Schicksalsgefährten, die ähnliches erlebt hatten wie ich.
Auch heute noch, nach Lesungen, erfahre ich, dass wir Angehörigen von Demenzkranken viele vergleichbare Erfahrungen gemacht haben. Es scheint, als wären wir alle in eine Art Club hineingedrängt worden, den wir uns nie ausgesucht hätten. Welcome in the Hell of Dementia!
Nein, ernsthaft. Das Leben mit einem Demenzkranken ist emotional, erschöpfend und manchmal herzzerreissend. Man gelangt an den Rand der eigenen Belastungsgrenze, geht darüber hinweg und staunt, was Liebe alles kann – und was nicht.
Omi ist nun seit zweieinhalb Jahren tot. Aber noch immer entdecke ich Dinge von ihr im Haus, erinnere mich an Erlebnisse und muss an sie denken. Wir waren uns gegenseitig Geschenk und Stütze. Ich vermisse sie sehr. Mehr noch bin ich glücklich und dankbar, dass sie in meinem Leben war.
Omi Paula zu erklären, dass Karlheinz Böhm gestorben ist, ist eine schwierige Sache. Zum einen wird sie es schon am Nachmittag wieder vergessen haben, zum anderen darf ich mir dann anhören, dass er ein schöner Mann war und sie es doof findet, dass er Sissi nicht geheiratet hat.
Es machte mich nachdenklich zu lesen, dass der beliebte Schauspieler die letzten Jahre seines Lebens »unter Alzheimer gelitten hat« und darum sehr zurückgezogen lebte. Ich finde es natürlich spannend, solche Berichte zu lesen. Karlheinz Böhm war ja schließlich ein berühmter Mann. Niemand will wohl wissen, wie es ihm (und seiner Familie) ergangen ist, als er an Alzheimer erkrankte. Das Bild des Wohltäters und klugen Mannes wird immer alles überstrahlen.
Ich überlege mir, wie das bei Paula so war. Sie hat wohl nie eine offizielle Diagnose bekommen. Bei ihr war die Demenz einfach Teil des schleichenden Alterungsprozesses. All die Jahre hat Paula das Vergessen mit ihrem Charme überspielt.
Natürlich war da jene Szene vor vielen Jahren in einem guten Modegeschäft in der Stadt, wo Paula sehr angeregt mit einer Schaufensterpuppe sprach und einige seltsame Blicke erntete. Aber irgendwie fand ich das nicht unpassend. Paula halt.
Etwas mehr Sorgen machte ich mir, als sie mir schluchzend erzählte, dass die Läden einfach geschlossen waren und ihr jemand erklärt habe, dass das am 1. November halt so sei. Sie hatte vergessen, dass dieser Tag im Kanton St. Gallen ein Feiertag ist.
Ich weiß nicht, ob ich heute mit Paula in ein Restaurant fahren würde. Sie isst nur noch kleine Portionen. Sie redet lieber, als dass sie isst und trinkt. Sie wird schnell müde. Ich möchte nicht, dass irgendjemand sie deswegen auslacht, nur weil ihr Verhalten heute aus dem Rahmen fällt. Aber etwas weiß ich genau: wenn ich mit Omi Paula gemeinsam Sissi schaue, hat sich nichts verändert. Paula strahlt, Sissi und der Kaiser leben. In österreichischen Liebesfilmen gibt es keine Demenz.
Darf ich glücklich sein?
Darf ich glücklich sein, ich meine: so richtig glücklich? Würde es mir nicht eher zustehen, mit gesenktem Kopf und traurigem Gesicht herumzulaufen? Heute ist einer dieser Tage, an denen ich sehr glücklich bin. Ich reise, ich begebe mich in eine mir gänzlich unbekannte Stadt, Köln. Alles ist neu.
Ich bin nominiert für einen Grimme-Online-Preis und kann mein Glück kaum fassen. Ich erkenne mich selbst nicht wieder. Mit einem Mal bin ich mutig. Alles ist gut, sage ich mir. Du darfst dich freuen. Zu gerne würde ich heute Abend Paula und meine Mutter anrufen. Ganz aufgeregt. Ich würde sagen: Ich bin gut angekommen. Die Reise war toll. Ich habe Wolken gesehen. Den Bodensee von oben. Es war aufregend. Die Häuser sahen so klein aus vom Flugzeug. Ich werfe einen Blick auf mein Telefon.
Die Nummern meiner Mutter und meiner Oma sind alle beide nicht mehr gültig, und trotzdem kenne ich sie noch auswendig. Die Heimfahrt ist traumhaft. Einmal mehr wird mir bewusst, wie sehr ich diese Gegend hier liebe. Die Apfelbäume, die sanften Hügel, die herrlich distanzierten Menschen. Zu Hause dann bemerke ich, dass mich jemand angerufen hat. Eine Nummer aus dem Toggenburg. Schnell ist klar, es ist das Pflegeheim. Ich atme tief ein. Atme tief aus. Dann rufe ich an.
Die Pflegekraft informiert mich, dass Omi Paula heute Nachmittag gestürzt ist. Sie liegt im Krankenhaus, mit Verdacht auf einen Oberschenkelhalsbruch. Ich atme tief aus. Ich habe keine Angst. Ich wusste ja, dass das irgendwann wieder geschehen würde. Ich bin ganz ruhig. Einmal mehr bin ich froh, dass Paula nicht in ihrem Haus gestürzt ist, sondern da, wo sie rasch Hilfe bekommt.
Meine Oma jetzt in der Klink zu wissen, ist allerdings ein komisches Gefühl. Ich bin etwas verwundert, als ich im Krankenhaus anrufe und mir die Dame am Telefon sagt, sie habe keine Ahnung, was Paula fehlt, und ich soll doch morgen wieder anrufen. Da ist mein Geduldsfaden am Ende. Ich sage, nicht unfreundlich, aber mit spürbar schneidender Stimme: »Meine Oma wurde notfallmäßig eingeliefert, und ich finde es unverschämt, dass Sie mir als Angehörige nicht helfen wollen, meine Auskunft zu kriegen. Ich mache mir Sorgen und ich habe keine Lust, erst morgen zu erfahren, was mit ihr los ist!«
Meine Worte verfehlten ihre Wirkung nicht, einige Sekunden später werde ich mit der chirurgischen Abteilung verbunden. Morgen wird Paula wahrscheinlich operiert. Ich habe keine Angst, denn ich weiß, meine Paula wird ihren Weg schon gehen. Ich hoffe natürlich sehr, dass sie die OP gut übersteht. Aber falls sie es nicht tun sollte, ist es ihre Entscheidung zu gehen, und ich kann nichts tun, außer fest an sie zu denken.
Im Krankenhaus
Seit Mittwoch ist meine Oma Paula nun im Krankenhaus. Ihr geht es den Umständen entsprechend gut. Mir nicht. Es ist ja nicht das erste Mal, dass ich so einen Klinik aufenthalt einer Angehörigen miterlebe. Aber erstaunen tut es mich doch immer wieder. Kommunikation ist das A und O bei der Arbeit mit Menschen, besonders im Pflegebereich, wo so viele verschiedene Fachleute miteinander und nebeneinander arbeiten. Warum also ist das so schwierig?
Demotivation und Gleichgültigkeit kann ich nicht leiden. Vielleicht bin ich zynisch, aber demenzkranke, ruhiggestellte Patienten sind gute Patienten. Sie bringen Geld ein. Sie reden nicht viel und – sie vergessen eh alles wieder. Als Angehörige bin ich darauf angewiesen, dass sich qualifizierte Pflegekräfte und Ärzte um meine demenzkranke Oma kümmern und mich informieren. Wenn ich einfach nichts mehr höre, den Informationen nachrennen muss und am Ende von einer Ärztin höre: »Oh, das ist wohl untergegangen«, dann werde ich sauer.
Heute Vormittag habe ich der Klinik telefonisch Auskunft über Paulas Personalien gegeben. Es ist ein seltsames Gefühl, zu erzählen, wo sie geboren ist, welcher Religion sie angehört und dass sie verwitwet ist. Paula erinnert sich nämlich nicht mehr daran. Ich werde weiterverbunden auf die Station, auf der meine Omi liegt. Die Pflegerin sagt sofort: »Sie sind die Enkelin!« Ich bestätige überrascht und frage sie, woher sie das weiß. Sie sagt: »Ihre Oma hat nach Ihnen gefragt. Sie hat mir gesagt, dass Sie kommen.«
Ich sitze in meinem Büro und schlucke die Tränen herunter. Eigentlich wollte ich heute nicht ins Toggenburg. Ich habe so viel zu tun. Dann denke ich: Nein, das kannst du nicht machen. Da erkennt sie dich mal wieder, und du bist nicht da. Also fahre ich mit Sascha quer durch die Ostschweiz ins Krankenhaus. Später kommt die Ärztin und informiert uns, was los ist. Paula hat sich mehrere Knochen gebrochen.
Heute oder morgen ist auch klar, ob sie operiert werden muss oder ob man »konservativ« behandelt, sprich: Paula kriegt Bettruhe und Schmerzmittel verordnet. Später, als die Ärztin wieder gegangen ist, erzähle ich Paula von meiner Reise nach Köln, was sie lustig findet. Als ich fertig bin, fragt sie: »Köln am Rhein?« Ich nicke. »Wo liegt Köln?«, fragt sie dann. »Am Rhein.« »Bist du sicher?«
»Ja, ich war ja da.« Ich habe Paula eine kleine Flasche 4711 mitgebracht. Sie riecht am geschlossenen Flacon und sagt: »So fein.« Ich sprühe ihr ein wenig Parfum auf die Hand. Das findet sie toll. Sie hält mir auch die andere hin und wedelt durch die Luft. Nach einer Weile sagt sie: »Das ist so schön, dass wir uns mal wieder sehen. Das hätte ich nun nicht gedacht, dass du einfach hier vorbeikommst.« Ich strahle. »Muss ich ja, wenn du kunstvolle Stürze produzierst.« Paula kichert. »Ja. Das kann ich wirklich gut. Ich hatte nämlich ein paar Schutzengel.« Das ist wohl wahr.
Es handelt sich hier um einen originalen Textauszug. Deshalb erfolgten keine Anpassungen gemäss «Bluewin»-Regeln.
Bibliografie: Demenz für Anfänger, Zora Debrunner, 208 Seiten, List Taschenbuch, ISBN-13 9783548612782
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