Demenz-ExperteDemenz-Experte Christoph Held: «Alzheimer-Kranken geht es im Heim oft besser»
Bruno Bötschi, Redaktor
21.11.2017
Heimarzt und Geronto-Psychiater Christoph Held hat ein Buch über Alzheimer geschrieben. Er schreibt darin von Symptomen, sogenannten «Prodromi», die auftreten können, jahrelang bevor die Krankheit sich bemerkbar macht.
«Am Anfang versuchten die Pflegenden, es mit Humor zu nehmen, wenn diese Bewohnerin behauptete, dass sie tot sei. ‚Auch Tote müssen sich verpflegen’, sagten sie ... Nachdem die Bewohnerin dieses Röllchen verzehrt und sogar von der reichhaltigen Garnitur auf dem Teller gekostet hatte, sagten einige Pflegende beim Abräumen: ‚Dafür, dass sie tot sind, haben Sie aber gut gegessen.’»
«Bluewin»:Herr Held, in Ihrem Buch «Bewohner» erzählen Sie sieben fiktionale Geschichten von Menschen, die an Demenz erkrankt sind. Es ist ein einfühlsames, aber auch beklemmendes Buch.
Christoph Held: Demenz ist aus zwei Gründen eine schlimme Diagnose und kaum vergleichbar mit anderen Erkrankungen: Die Krankheit schreitet unerbittlich fort und sie nimmt dem Menschen im späteren Verlauf die Fähigkeit, das Kranksein zu reflektieren. Demenz ist ein ständiges Ringen um die Hoheitsdeutung des eigenen Zustandes. Gleichzeitig ist es ein aussichtsloser Kampf und das spüren viele Betroffene bis ganz am Schluss und verzweifeln oft daran.
Sie arbeiten seit fast 30 Jahren als Heimarzt und Gerontopsychiater in Pflegezentren der Stadt Zürich. Wie schaffen Sie es angesichts so vieler bedrückender Erlebnisse positiv zu bleiben?
In dieser Zeit ist auch viel Hilfreiches und Schönes für die demenzkranken Bewohner geschehen. Bei Manchen tritt sogar eine gewisse Freiheit von der bisherigen Biographie ein, zum Beispiel wenn schwierige Persönlichkeitsanteile in den Hintergrund treten.
Das müssen Sie erklären.
Eine Tochter erzählte mir, dass sie an ihrer erkrankten Mutter neue Seiten entdeckt habe. Früher sei sie eher abweisend und streng gewesen, heute könne sich die Mutter besser öffnen, erzähle aus ihrer Kindheit, lasse sogar körperlichen Kontakt zu.
Die Krankheit kann also auch Tröstliches mit sich bringen?
Tröstlich ist vielleicht das falsche Wort. Aber es gibt seelische Entwicklungen, die als positiv empfunden werden.
Im Buch schreiben Sie von sogenannten «Prodromi»: Symptome, die auftreten können, jahrelang bevor die Krankheit sich bemerkbar macht.
Diese frühen und oft abrupten auftretenden Wesens- und Verhaltensveränderungen sind typisch für die Alzheimerkrankheit, die am meisten verbreitete Demenz-Erkrankung. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ein Mann, der regelmässig Reisen in alle Kontinente unternahm, sagte auf einmal: «Ich bleibe zu Hause.» Für die erstaunten Angehörigen begründet er diesen Sinneswandel: «Ich will meine Umgebung und meine Nachbarn endlich besser kennenlernen.»
Es können Veränderungen sein, die im ersten Moment durchaus als positiv empfunden werden.
Das stimmt. Die Angehörigen realisieren erst später, dass eine Verhaltensauffälligkeit oder eine Wesensveränderung des Patienten schon viel früher begann. In der Demenz, davon berichte ich in meinem Buch, geht es eben nicht nur um die Abnahme der geistigen Fähigkeiten, sondern auch um eine Erschütterung des Selbsterlebens.
Was meinen Sie damit?
Alles, was wir erlebt haben, macht unser «Ich» oder «Selbst» aus. Die Erschütterung geschieht, wenn bei Demenz das autobiografische Gedächtnis langsam verloren geht. Trotz dieses Verlustes ist es wichtig zu wissen: Demenzkranke sind, auch wenn die Krankheit weit fortgeschritten ist, niemals nur «menschliche Hüllen», wie sie noch in den 1990-Jahren bezeichnet wurden. Sie sind sehr durchlässig und wissen häufig nicht mehr, wer sie waren, aber sie sind Menschen mit einem äusserst sensiblen Empfinden. Und auch bei Schwerstkranken blitzen immer wieder Momente der Selbstorientierung auf. Da habe ich schon ganz eindrückliche Sachen erlebt.
Erzählen Sie.
Kurz vor seinem Tod sagte ein Demenzkranker zu mir: «Ich bin dankbar für die Pflege.» Ein anderer Schwerkranker sagte: «Ich bin nicht mehr ich. Mit mir stimmt etwas nicht.» Das sind differenzierte Schilderungen eines inneren Zustandes.
Quelle: Youtube
Demenz ist bis heute nicht heilbar. Was hilft das frühe Erkennen der Krankheit?
Dadurch können gerade Verhaltensauffälligkeiten, die zu riesigen familiären Schwierigkeiten und Missverständnissen führen können, ins richtige Licht gerückt werden. Wenn die Krankheit erkannt ist, führt das zu einer Entlastung im Zusammenleben. Oft sind sowohl Betroffene als auch Angehörige erleichtert nach der Diagnose, weil sie das Ganze nun besser einordnen können. Ausserdem können Medikamente abgegeben und andere Massnahmen ergriffen werden, welche die Symptome der Krankheit für einige Zeit stabilisieren können.
Wie kann man in der Frühphase einer Demenz als Angehöriger am besten helfen?
Nach der Diagnose ist es wichtig, die familiäre Beziehungssituation zu klären. Der Partner und die Familie müssen sich bewusst werden, ob und wie sie den Krankheits- und Veränderungsprozess mittragen können. Welche Hilfestellungen von aussen will man annehmen? Es ist auch wichtig über Administratives und Rechtliches zu reden - über eine Patientenverfügung, Vorsorgeauftrag oder Bankvollmachten.
Später kann es zu Phasen des Misstrauens kommen, während denen der Demenzkranke glaubt, er werde belogen. Wie geht man damit um?
Das sind sehr belastende Momente, weil sie oft auch mit Aggressionen gegen die eigenen Angehörigen verbunden sein können. Misstrauen oder sogar Wahnvorstellungen fallen aber nicht einfach vom Himmel. Sie haben viel mit dem verunsicherten Selbsterleben der Betroffenen zu tun. Je mehr ein Mensch in seinem Innersten verunsichert ist, desto wahnhafter können seine Äusserungen sein: Warum schaut mich diese Frau so komisch an? Warum steht diese Flasche auf dem Tisch? Ist das Essen etwa vergiftet?
In Ihrem Buch beschreiben Sie eine Bewohnerin, die glaubt, sie sei tot.
Der Prozess der inneren Verlorenheit kann leider nicht rückgängig gemacht werden. Aber es ist wichtig, dass wir diese Aussagen nicht mit logischen Argumenten widerlegen, sondern auf die Gefühle der Verunsicherung und Angst eingehen. Ich erzähle in meinem Buch, wie es der Frau wieder bessergeht, nachdem sich ein Pfleger liebevoll um sich kümmert. Fakt ist: Wenn die Pflegenden fähig sind, emotionale Geborgenheit zu geben, müssen weniger Medikamente an die Demenzkranken abgeben werden.
Von welcher Art von Geborgenheit sprechen Sie?
Im Alterszentrum Doldertal in Zürich werden zum Beispiel die Demenzkranken zum Essen nicht einfach zusammen an die Tische geschoben. Stattdessen gibt es unterschiedliche Verpflegungssituationen: Bewohner, die noch bei sich sind, können im Saal an kleinen Tischen essen. Bewohner, die wegen ihrer inneren Verunsicherung bei den Mahlzeiten überfordert sind, werden in geschützten Räumen oder im Zimmer beim Essen begleitet und angeleitet. Demenzkranke, die vergessen haben, sich beim Essen überhaupt zu setzen, werden im Gang – also fliegend - von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern verpflegt.
Die Pflegenden müssen extrem viel Einsatz leisten.
Das stimmt, die Pflegenden müssen sehr viel geben. Es ist eine anspruchsvolle und erschöpfende Arbeit, die häufig ungenügend entlöhnt wird und zu wenig Anerkennung hat.
Angehörige von Alzheimer-Patienten brauchen ebenfalls viel Langmut.
Es ist manchmal kaum zu fassen, was Angehörige leisten, wenn sie einen Demenzkranken daheim pflegen. Sie werden oft selber krank, weil sie so viel geben und auch erdulden mussten.
Bis zu welchem Punkt kann man die Pflege eines demenzkranken Partners selber leisten?
Das hängt von der Unterstützung durch Familienmitglieder, Freunde und Nachbarn ab, ebenso vom Beiziehen professioneller Hilfe wie etwa Aufenthalte in Tagesstätten, Entlastungsferien oder Spazierbegleitung. Wichtig ist eine psychische Unterstützung durch Angehörigengruppen. Das Allerwichtigste jedoch ist, den Eintritt des Betroffenen in ein Pflegezentrum nicht als Versagen der Angehörigen zu sehen und generell die Heime nicht schlecht zu reden. Die Gesellschaft und die Politik singen gerne das Lied vom langen Verbleib in den eigenen vier Wänden. Dem Demenzkranken werden jedoch gerade die eigenen vier Wände oft fremd. Er erkennt seine Möbel und die Bilder an der Wand nicht mehr - irgendwann erkennt er auch seine Angehörigen nicht mehr. Dann erlebe ich, wie es Demenzkranken in einem Heim oft besser geht als zu Hause, weil sie nicht mehr ständig ihre vergessene Biografie vertreten müssen.
Was meinen Sie damit?
Vielen ist nicht bewusst, dass es für den Demenzkranken mit Stress verbunden ist, wenn er ständig gefragt wird «Weisst du nicht mehr damals?». In den demenzspezialisierten Heimen wird darauf geachtet, die Bewohner nicht mit zu vielen Erinnerungsgegenständen zu verwirren. Auch Spiegel werden abgehängt oder überklebt, weil sich die Betroffenen nicht mehr erkennen können und Angst vor einem Fremden haben.
Sie sind also der Überzeugung, dass sich das Leben für einen Demenzkranken in einem Heim angenehmer gestalten kann?
Man kann das nicht verallgemeinern, aber für viele Demenzkranke ist das Pflegezentrum, wo eine gute Demenzpflege stattfindet, auch ein guter Lebensort. Hierzu braucht es keine ausgeklügelten und aufwendigen architektonischen und betrieblichen Konzepte, sondern vor allem gut ausgebildete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Was sagt es über unsere Gesellschaft aus, dass wir nicht in der Lage sind, natürlich mit Krankheit und Behinderung umzugehen?
Haben wir damit wirklich so viel Mühe? Ich erlebe bei den Angehörigen und Pflegenden genau das Gegenteil. Die Schweiz hat es innert weniger Jahre geschafft eine nationale Demenzstrategie auf die Beine zu stellen. Das ist grossartig.
Wieso schreiben Sie?
Ich habe immer geschrieben. Es ist ein grosses Glück für mich. In meinem neuen Buch versuche ich, das Klinische ins Allgemeingültige zu überführen. So ist eine Art Zeitbogen über die alternde Schweiz entstanden. Ich arbeite seit fast 30 Jahren in Pflegeheimen. Meine Welt ist die Geriatrie, nein, bald muss ich sagen, war die Geriatrie. Ich bin selber alt geworden. Das Schreiben war auch immer eine Verarbeitung von dem, was ich erlebte.
Sie sind 66. Haben Sie Angst vor dem Alter?
Ich bin schon alt - den Begriff der «jungen Alten» finde ich irreführend. Selbstverständlich habe ich Angst vor Gebrechlichkeit und vom Verlust des Verstandes. Ich glaube, diese Angst beschleicht jeden älteren Menschen, obschon es auch solche gibt, die ausrufen, dass sie gerne 120 Jahre alt werden möchten. Ich möchte das nicht.
«Manchmal, wenn der Spätdienst beendet ist, entspannen sich die Pflegenden in einer nahe gelegenen Bar bei einem alkoholischen Getränk und einer Zigarette. Schweigend betrachten sie die lärmenden Gäste des Lokals, deren Heiterkeit für sie noch schwerer verständlich ist als die Verwirrtheit der Bewohner.»
Auszug aus dem Buch «Bewohner».
Zur Person: Christoph Held
Christoph Held, geboren 1951, war nach seinem Medizinstudium zunächst als Regie- und Dramaturgieassistent an verschiedenen Theatern. Heute arbeitet er als Heimarzt und Geronto-Psychiater in den Pflegezentren der Stadt Zürich und im Gesundheitszentrum Dielsdorf. Er hat einen Lehrauftrag an der Universität Zürich und unterrichtet in Fachhochschulen über Demenz. 2006 erhielt er den Schweizerischen Alzheimerpreis (gemeinsam mit Doris Ermini). Neben Fachbüchern erschienen 2010 seine Erzählungen «Wird heute ein guter Tag sein?» im Zytglogge Verlag. Held lebt in Zürich.
Das Buch: «Bewohner», Christoph Held, Dörlemann Verlag, Zürich, 160 Seiten, ca. 27 Fr., im Buchhandel erhältlich.
Der Vorträge: Held referiert regelmässig zum Thema «Demenz» und liest aus seinem neuen Erzählband. Die Termine finden Sie hier.
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