Nie den Humor verlierenMartha hat Demenz und nervt – was wir von ihr lernen können
Brigitta Schröder
25.10.2018
Im Buch «Martha, du nervst!» erzählt die Zürcher Diakonisse Brigitta Schröder die Geschichte rund um eine langjährige Freundin – Martha wurde nach einem Schlaganfall dement.
Sie betreute ihre Freundin über Jahre – eine Aufgabe, die das Fundament für Brigitta Schröders Enagament für Menschen mit Demenz legte. Das Buch wirft einen Blick zurück in eine Zeit, in der die Diagnose Demenz und Alzheimer noch nicht in aller Munde war.
Es lässt verschiedene Menschen in Interviews zu Wort kommen und bringt uns nicht nur das Thema Demenz näher, sondern auch Ansichten, die das, was Brigitta Schröder lebt, noch klarer machen: Menschen mit Demenz sind bedeutsam für unsere Gesellschaft.
«Bluewin» publiziert das Kapitel «Lichtblicke» als exklusiven Vorabdruck – die Leserinnen und Leser können das Buch unten zu einem vergünstigten Preis direkt beim Verlag bestellen.
Lichtblicke
»Brigitta, bleibst du hier, gehst du fort? Gehst du fort, kommst du wieder?« Martha sitzt in ihrem grossen Sessel im Wohnzimmer, fragt abermals: »Gehst du fort, kommst du wieder?« Ich sage ihr, was ich ihr an diesem Morgen schon zigmal gesagt habe: »Natürlich bleibe ich hier, Martha! Hör auf, mich ständig dasselbe zu fragen, ich kann es nicht mehr hören. Du weisst genau, wenn ich weggehe, organisiere ich jemanden, sodass du nicht allein sein musst.« Es ist ein Theater. Jeden Morgen. Immer dasselbe. Martha fragt – wieder und wieder: »Brigitta, bleibst du hier? Gehst du fort? Kommst du wieder?« Und ich, ich antworte wieder und wieder: »Wenn ich fortgehe, bist du nicht allein.« Spreche ich an eine Wand? Versteht Martha kein Deutsch oder nur mich nicht mehr? Oder will sie mich schlicht und einfach ärgern?
Nein, Martha hat Demenz. Nach einem Schlaganfall wurde es zur Gewissheit. Ohne darüber nachzudenken, welche Konsequenzen damit verbunden sein könnten, entschloss ich mich, sie auf ihrem Weg nicht allein zu lassen. Viel Einsatz war nötig, damit sie bei sich zu Hause bleiben und hier gepflegt werden konnte. Sie wollte, konnte und sollte nicht allein sein. »Bleibst du hier, gehst du fort? Gehst du fort, kommst du wieder?« Ich setze mich auf die Armlehne von Marthas grossem Sessel, blicke sie an und beginne zu singen: »Ich bleib bei dir und geh nicht fort, an deinem Herzen ist der schönste Ort.« Dann lachen wir zusammen, und sie hält mir ihre seidenweiche Wange für ein Küsschen hin.
Dreimal pro Woche bade ich Martha, hebe sie mit einem speziellen Lift aus der Wanne, wickle sie in ein flauschiges Tuch. Der Pflegedienst cremt ihre Haut ein. Ihre Augen sind geschlossen, sie geniesst es. An anderen Tagen hat sie Angst. Vor dem grossen Wasser. Vor einem Dammbruch, der alles wegschwemmen wird, auch ihre eigene Existenz. Sie hat zwei Kriege erlebt, im Ersten Weltkrieg fiel ihr Vater. Mutter und Tochter wurden zweimal verschüttet. Martha zeigte mir, was sich auch in späteren Jahren bestätigte: dass die Biografie im Leben von Menschen mit Demenz ganz besonders wichtig ist, denn nur wenn diese berücksichtigt wird, kann eine einfühlsame Haltung eingeübt werden.
Menschen mit Demenz leben einfach ihre Gefühle
Eine Zeit lang rief sie in der Dunkelheit meinen Namen. »Brigitta! Brigitta!« Ich fragte nach, und trotzdem konnte ich nicht herausfinden, was sie brauchte. Bis mir eine Freundin sagte, Martha langweile sich möglicherweise. Diese Vermutung teilte ich ihr mit und forderte sie gleichzeitig auf, weiter nach mir zu rufen. Ich erklärte ihr, ich würde nun – in der Gewissheit, dass mein Name im Weltall erklinge – zu Bett gehen. Mit diesem Gedanken schlief ich ein, Martha ebenfalls. In anderen Nächten verband sie den vermuteten Wunsch nach Schutz und Nähe mit dem Satz: »Ich muss sterben; wenn du nicht sofort kommst, wirst du deines Lebens nicht mehr froh.« Meine Bitten und Ermahnungen, mich schlafen zu lassen, brachten nichts. Menschen mit Demenz leben einfach ihre Gefühle. Irgendwann sagte ich: »Martha, du nervst!«
Eines Nachts lauschte ich wieder einmal ihren Worten, setzte mich an den Tisch und begann mitzuschreiben – mit der Absicht, mich professionell beraten zu lassen. Ich wusste, dass Martha, wie so viele Menschen mit Demenz, über eine weiterentwickelte Sensibilität verfügte, über die Gabe, wahrzunehmen, wie es den Gesunden nicht möglich ist. Vielleicht vernahm sie auch nur das Kratzen des Stifts auf dem Papier, ein Geräusch in der Stille der Nacht, das im Rhythmus ihrer Sätze erklang; fühlte sich ernst genommen, empfand es als beruhigend, dass das Gesagte nicht mehr nur lästig zu sein schien, sondern aufgeschrieben wurde.
Ich konzentrierte mich nicht länger auf ihre Aussagen, und als meine Sätze zu Papier gebracht worden waren, stoppten auch ihre wiederkehrenden Drohungen. Das ist nur eines von vielen Beispielen, die mich im Leben mit Martha weiterbrachten, aber es ist ein Schlüsselerlebnis: Ich erkannte, dass Menschen mit Demenz sich nicht ändern können. Nur wenn ich mich verändere, verändert sich die Situation. Beim erwähnten Beispiel befreite ich mich aus der negativen Haltung Marthas Verhalten gegenüber. Diese Erfahrung bestätigte sich auch in späteren Jahren bei vielen Gelegenheiten: Auf dem Weg zu einem flexiblen und positiven Umgang mit Menschen mit Demenz sind Trampelpfade zu verlassen. Das ist nicht immer einfach: Routinen, Meinungen und Überzeugungen geben Halt. Sie zu hinterfragen, zu neuen Schlüssen zu gelangen, die innere Haltung zu verändern, erfordert Mut und Kraft. Schaffen wir es aber, in den vielen Veränderungen, die eine Demenz mit sich bringt, mehr als nur die Summe von Defiziten und schmerzvollen Verlusten zu erkennen, und zeigen Bereitschaft, einem solchen Prozess Raum zu geben, wird der Weg für alle Beteiligten leichter.
Normen und Konventionen spielen keine Rolle mehr
Menschen mit Demenz fordern ihr persönliches Umfeld heraus: Was bisher sinnvoll und richtig war, gilt oft nicht mehr. Demente Menschen sind frei von Normen, Systemen und Konventionen. Sie machen Grenzüberschreitungen und handeln absichtslos. Sie wollen niemanden verletzen, doch das Gegenüber fühlt sich oft verletzt. Auch Werte und Bedürfnisse verändern sich. Status, Prestige und alles Materielle verlieren an Bedeutung, dafür wird anderes wichtig.
Menschen mit Demenz erspüren Gedanken und machen – was auch immer die Umwelt davon denkt –, was sie wollen. Sie leben wie Kinder auf der Ebene des Herzens, die wir einst verlernen mussten, um in vorgegebene Strukturen zu passen und gesellschaftlichen Verhaltensregeln zu entsprechen. Doch sie sind keine Kinder, und sie haben eine Erziehung hinter sich. Sie sind geprägt und sozialisiert worden, benötigen keine Zurechtweisungen und keine Beurteilungen. Sie leben nicht mehr in unseren Systemen, wollen aber integriert und respektiert bleiben und zweifeln ihre Würde niemals an. Wir würden gut daran tun, dies nicht nur genauso zu sehen, sondern auch umzusetzen.
Von Menschen mit Demenz lernte ich im Verlauf von Jahrzehnten immer neu dazu. Sie unterstützen und ermutigen mich, Konventionen weniger wichtig zu nehmen und Prägungen verblassen zu lassen. Sie öffnen dem Immateriellen, aber auch neuen Erkenntnissen, der Fantasie und der geistigen Beweglichkeit einen Raum. Sie zeigen uns, wie anders leben möglich ist. Sie fordern jeden Einzelnen auf, über sich selbst nachzudenken und Eigenverantwortung einzuüben. In meiner Sicht sind Menschen mit Demenz Pioniere für eine humanere Gesellschaft. Diese oder ähnliche Worte fielen auch bei der Übergabe des Bundesverdienstkreuzes am Bande, das mir im Jahr 2015 von der deutschen Bundesregierung für mein Engagement in der Begleitung von Menschen mit Demenz verliehen wurde.
Dankbar denke ich an Martha zurück. Durch ihre Veränderung erhielt ich wertvolle Anregungen und kam mir dabei selbst auf die Schliche. Ich trat durch Türen, die sie mir geöffnet hatte, und entwickelte später den Blickrichtungswechsel: eine innere Haltung der Toleranz und Akzeptanz sich selbst und anderen gegenüber. Damit in belastenden Situationen Lichtblicke sichtbar werden.
Wie hat einst doch schon der Philosoph Jean Paul gesagt: »Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.«
Leserangebot: «Martha, du nervst!»
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