Bötschi fragt Joe Bausch«Auch Verbrecher haben Angst»
Bruno Bötschi
14.12.2024
Als Arzt hat Joe Bausch über 30 Jahre lang Schwerverbrecher behandelt. Ein Gespräch mit dem 71-Jährigen über seine Tätigkeit im Gefängnis, typische Knast-Krankheiten und die Frage: Ist der Mensch gut oder böse?
Bruno Bötschi
14.12.2024, 08:13
Bruno Bötschi
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Joe Bausch ist ein Mann mit vielen Talenten. Er ist Schauspieler, Bestsellerautor und war Gefängnisarzt.
In seiner Biografie «Verrücktes Blut» beschreibt der 71-Jährige seine schlimme Kindheit auf dem Bauernhof – und erklärt, wie er dem Männerbild seiner Eltern entkommen konnte.
Der erste Teil des Gesprächs mit Joe Bausch erschien am gestrigen Samstag auf blue News.
Im zweiten Teil spricht Bausch über seine Arbeit als Gefängnisarzt und typische Knast-Krankheiten.
«Viele Gefangene sagen klar: Ich habe ein Verbrechen begangen, ich bin zu Recht inhaftiert. Es gibt sogar welche, die leiden im Knast – also nicht nur wegen des Eingesperrtseins, sondern auch wegen ihrer Tat. Es ist aber nicht die Mehrheit der Häftlinge», so Bausch.
Joe Bausch, Sie waren über 30 Jahre lang Gefängnisarzt in der Justizvollzugsanstalt Werl, also dort, wo die besonders schweren Jungs einsitzen. Sie waren sozusagen der Hausarzt von Mördern und Vergewaltigern. Gibt es eine Logik, dass ein Mensch böse wird, oder haben alle Menschen eine Wahl, für welche Seite sie sich entscheiden?
Ich glaube daran, dass die meisten Menschen eine Wahl haben. Aus vielen Gesprächen mit Verbrechern weiss ich, dass fast alle ziemlich genau sagen können, wann sie sich im Leben dafür entschieden haben, auf die schiefe Bahn zu kommen.
Diese Menschen haben also irgendwann gesagt: «Ja, ich will ein Arschloch werden.»
Diese Menschen wollten vielleicht nicht unbedingt ein Arschloch werden. Es war ihnen jedoch bewusst, dass sie nach der Tat andere Menschen für ein Arschloch halten werden. Ich wollte nie ein Arschloch sein.
Ist naiv, wer an das Gute im Menschen glaubt?
Das ist nicht naiv. Naiv ist jemand, der glaubt, alle Menschen seien gut und nett und dabei vergisst, dass es auch böse Leute auf der Welt gibt.
Schauspielerei ist für viele Menschen ein Traumberuf, Gefängnisarzt eher weniger. Warum haben sie sich in jungen Jahren nicht auf die Schauspielerei konzentriert?
Ich hatte in meinem Leben oft Mühe damit, mich nur auf eine Sache einzulassen. Ich liebe es vielmehr, mich mit zwei, drei Sachen gleichzeitig zu beschäftigen. Als Schauspieler ist man zudem von anderen Menschen abhängig.
Zum Autor: Bruno Bötschi
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blue News Redaktor Bruno Bötschi spricht für das Frage-Antwort-Spiel «Bötschi fragt» regelmässig mit bekannten Persönlichkeiten aus dem In- und Ausland. Er stellt ihnen ganz viele Fragen – immer direkt, oft lustig und manchmal auch tiefsinnig. Dabei bleibt bis zur allerletzten Frage immer offen, wo das rasante Pingpong hinführt.
Wie meinen Sie das?
Als Schauspieler muss ich gebucht und gut inszeniert werden. Und sowieso: Der Blick des Arztes und des Schauspielers auf die Welt ist nicht so unterschiedlich. Denn wenn Sie sich nicht für Menschen interessieren, können Sie sie nicht Theater spielen – und Sie können sie als Arzt zwar behandeln, aber nicht heilen.
Welche Charaktereigenschaft muss ein Mensch mitbringen, der im Knast arbeiten will?
Authentizität ist die wichtigste Charaktereigenschaft in einer Umgebung, in der jeder jeden belügt. Und du musst jeden Tag aufs Neue entscheiden, im Knast zu arbeiten. Nur so kann man die Tätigkeit hinter Gittern gut aushalten.
Was sind typische Gefängniskrankheiten?
Schlaflosigkeit, Rücken- und Kopfschmerzen.
Ich hätte jetzt eher an HIV, Hepatitis C und Drogenabhängigkeit gedacht.
Es stimmt, diese drei Befunde sind stark verbreitet im Knast, aber meist beginnt eine Krankheit mit Schmerzen. Zudem gibt es im Gefängnis so viele angstgestörte Menschen wie sonst nirgendwo auf der Welt. Allein 14 Prozent aller Insassen leiden an psychiatrischen Störungen. Wussten Sie übrigens, dass weltweit mehr psychisch kranke Menschen in Gefängnissen sitzen als in der Psychiatrie?
Nein, das wusste ich nicht.
Fakt ist: Auch Verbrecher haben Angst.
Dass Haft nicht heiter stimmt, ist klar: Wie behandelt man im Gefängnis Depressionen?
Wir können einen Insassen nicht aus dem Knast entlassen, um ihn von der Depression zu heilen. Und wir können ihm auch nicht raten, er soll seinen Job aufgeben, weniger arbeiten oder öfters spazieren gehen. Wir können ihn jedoch mit Medikamenten behandeln. Zudem kann ich als Gefängnisarzt weitere Fachleute hinzuziehen – zum Beispiel einen Psychologen, einen Sozialarbeiter oder einen Priester. Die Zuwendung im Gefängnis ist enorm, vor allem dann, wenn die Gefahr von Eigengefährdung besteht. In solchen Momenten steht einem Insassen ein ganzes Team zur Seite.
Hatten Sie oft Angst während Ihrer Tätigkeit als Arzt im Knast?
Ich hatte nie Angst. Innerhalb der Gefängnismauern erlebte ich nur zwei, drei wirklich gefährliche Situationen. Hingegen kam es vor, dass ich ausserhalb des Gefängnisses bedroht und danach mein Haus von der Polizei bewacht werden musste. Und einmal stand ein Bestatter vor meinem Haus, der meine Leiche abholen sollte. Mein Vorsatz in all den Jahren als Gefängnisarzt war: Ab dem Tag, an dem ich wirklich Angst habe, arbeite ich sofort nicht mehr im Knast.
Erkennen Sie eine psychopathische Persönlichkeit, wenn Sie Ihnen gegenübersitzt?
Ja, ich brauche 10, 15 Minuten Zeit für ein Gespräch mit der Person. Durch meine jahrzehntelangen Erfahrungen im Knast realisierte ich irgendwann, mit wie vielen Psychopathen ich es in meinem früheren Leben schon zu tun hatte – also im Militärdienst, während des Studiums, aber auch im Theater. Diese Menschen haben zwar niemanden umgebracht, aber es waren gleichwohl psychopathische Persönlichkeiten, das ist mir inzwischen klargeworden.
Es gibt Fachleute, die behaupten: «Das Gefängnis ist keine Lösung. Das belegen die seit Jahrzehnten konstant hohen Rückfallquoten.»
Das mag sein. Bleibt die Frage: Was wäre die Alternative zum Gefängnis? Ich bin aber auch der Meinung, dass unsere Gefängnisse nicht in der Lage sind, alle schwierigen Persönlichkeitsstörungen, die wir dort beherbergen, bereits mit dem ersten Therapieversuch behandeln zu können.
Manche Menschen brauchen dafür einen Aufenthalt von 20 Jahren, andere werden erst klüger, wenn sie alt und gebrechlich sind. Gleichzeitig ist es aber ein Fakt, dass über 40 Prozent der Straftäter nach Absitzen ihrer Strafe nicht wieder rückfällig werden – also zumindest bei den Insassen im mittleren Alter. Bei den jugendlichen Straftätern ist die Rückfallquote mit 70 Prozent leider deutlich höher.
Aber natürlich ist das Gefängnis nicht die Lösung aller gesellschaftlichen Probleme. Trotzdem glaube ich, dass die Mehrheit der Menschen sich Vergeltung und Gerechtigkeit wünscht. Und welche Institution könnte das sonst gewährleisten? Gleichzeitig ist es aber auch wichtig, dass sich die Gefängnisse immer wieder den geänderten gesellschaftlichen Anforderungen, aber auch den Insassen anpassen. Tun sie das nicht, macht die Institution Gefängnis ihren Job nicht richtig.
Als Gefängnisarzt mussten Sie auch immer wieder Insassen behandeln, die Menschen auf bestialische Weise umgebracht haben. Wie haben Sie es in solchen Situationen geschafft, ruhig zu bleiben und sich auf Ihre Tätigkeit als zu konzentrieren?
Als Arzt habe ich Empathie für jeden Patienten – und solange mich einer nicht persönlich beleidigte oder beschimpfte, fiel mir das nicht schwer. Aber ja, manche Gefangenen machen es einem besonders schwer. In diesen Fällen dachte ich daran, was wäre, wenn dieser Typ jetzt in Freiheit zu einem Arzt ginge? Der wüsste nicht, was sein Patient für eine Straftat begangen hat und würde einfach freundlich mit ihm sein.
Im Jahr 2012 sagten Sie in einem «Spiegel»-Gespräch: «Wenn ein Mensch nackt vor einem auf dem Behandlungstisch liegen, man sie abtastet, entsteht natürlich eine Art der Nähe.»
Ich sage immer: Anwendungen sind auch Zuwendungen. Als Gefängnisarzt bin ich der Einzige, der einen Insassen im Knast nicht gewaltsam anfasst. Das kann eine Form von Intimität erzeugen. Sonst gibt es im Gefängnis nur Körperkontakt, wenn einem Gefangenen Handschellen angelegt werden.
Diese Momente mochte ich während meiner Tätigkeit als Gefängnisarzt ganz besonders. Oft erzählten mir die Gefangenen dann Dinge, die sie sonst noch niemandem erzählt hatten. Manchmal waren die Geschichten, die ich zu hören bekam, nur ganz schwer auszuhalten. Aber wer nicht fragt, kriegt keine Antworten – keine negativen, aber auch keine positiven.
Wie lief das jeweils ab, wenn Sie einen Mörder in Ihrem Behandlungszimmer untersucht haben?
Ich war nur in Ausnahmefällen allein mit einem Gefangenen im Behandlungszimmer – etwa dann, wenn ich ihn schon länger kannte und mehrfach Kontakt mit ihm hatte. Im Gefängnis kam ein Patient aber auch nicht einfach so zu mir zur Behandlung.
Musste ich einen Eingriff vornehmen, zum Beispiel eine Platzwunde mit Schere und Skalpell nähen, standen immer zwei, drei Männer um mich herum und passten auf. Ich bin mutig, aber nicht tollkühn. Nicht zuletzt auch deshalb, weil ich durch unvorsichtiges Verhalten auch andere Mitarbeiter gefährden würde.
Haben Sie auch Erfolgsgeschichten erlebt? Mörder, die zurück in ein normales Leben fanden?
Absolut. Ich treffe ab und an Ex-Häftlinge, wenn ich auf Lesetour bin. Manch einer hat mir auch schon seine Frau und Kinder auf der Strasse vorgestellt. Es gibt auch die Typen, welche die Strassenseite wechseln, wenn sie mich sehen. Sie gehen einem Treffen mit dem Gefängnisarzt lieber aus dem Weg, weil sie vielleicht ihre Lebensgeschichte vor ihrer Begleitung nicht öffentlich machen möchten. Dafür habe ich alles Verständnis und ich unterstehe als Arzt ja auch der Schweigepflicht.
Haben Verbrecher auch ein Gewissen?
Durchaus – meine Erfahrung ist, dass die Mehrheit der Insassen weiss, dass es nicht richtig war, was sie getan haben. Viele Gefangene sagen klar: Ich habe ein Verbrechen begangen, ich bin zu Recht inhaftiert. Es gibt sogar welche, die leiden im Knast – also nicht nur wegen des Eingesperrtseins, sondern auch wegen ihrer Tat. Es ist aber nicht die Mehrheit der Häftlinge.
Es gibt auch Psychopathinnen, doch die sind selten. Ist das Böse also doch männlich?
Na gut, wenn man sich die Zahlen der verurteilten Menschen ansieht, ist es eindeutig: 95 Prozent sind Männer, 5 Prozent sind Frauen. Frauen sind dagegen viel häufiger Opfer von Verbrechen. Klar ist aber auch, Frauen sind ebenfalls in der Lage, psychopathisch zu agieren.
Offenbar funktionieren Frauen aber anders. Vielleicht sind sie einfach cleverer als die Männer. Ich weiss es nicht genau. Ganz sicher hingegen bin ich, dass es nicht nur an der grösseren Cleverness liegen kann. Man sagt doch immer so schön: Männer morden, Frauen lesen darüber.
Im «Tatort» Köln spielen Sie den beliebten Pathologen Josef Roth. Was bedeutet Ihnen diese Rolle?
Wissen Sie was, es ist die einzige Rolle in meinem bisherigen Leben, in der ich keinen Verbrecher mime. Oder wie andere sagen würden: Es ist meine einzige seriöse Rolle. Wahrscheinlich spiele ich sie deshalb mittlerweile auch schon 27 Jahre. Und ich spiele sie nach wie vor gern und bin dankbar dafür. Diese Rolle bedeutet mir wirklich viel, auch wenn es viele Rollen gab, die mich mehr herausgefordert haben.
Im Alter von 59 Jahren sagten Sie in der «Frankfurter Rundschau»: «Ich arbeite einfach gern. Nichts wäre schlimmer, als aufhören zu müssen, etwas zu tun, weil ich körperlich nicht mehr kann.» Jetzt sind Sie 71. Wie fühlt sich das Alter an?
Ach … ich weiss es gar nicht … ich fühle mich gut. Es gibt den wunderbaren Satz: Wenn du morgens mit über 50 aufstehst und keine Schmerzen hast, dann bist du tot. Gleichzeitig bin ich dankbar für meine nach wie vor erstaunlich grosse Vitalität.
Worauf führen Sie Ihre Vitalität zurück?
Meine Erklärung dafür ist: Ich ruhe und raste nicht, sondern suche mir lieber immer wieder neue Herausforderungen. Ich sage immer: Alt fühlt sich der Mensch dann, wenn er nicht mehr neugierig ist.
Demnach haben Sie keine Angst vor dem Älterwerden?
Nein, gar nicht. Ich bin vielmehr neugierig, was noch alles passieren wird. Und ich bin oft rastlos und vergesse, Pausen zu machen, die ich mir als Arzt wahrscheinlich verschreiben würde. Ja, ich lebe gegen den ärztlichen Rat und wider die Vernunft. Aber solange das gut funktioniert, werde ich das wahrscheinlich so beibehalten (lacht).
Wie entspannt bleiben Sie im Angesicht von Weihnachten?
Da halte ich mich gern an meine Tante Res. Sie hat Weihnachten ignoriert und ist stattdessen an irgendeinem Tag losgezogen und hat Geschenke gekauft. Das würde ich auch gerne so machen – aber das geht meist nicht, weil ich sonst zum asozialen Typen abgestempelt würde.
Nun denn, ich habe in meinen Leben nicht nur das Verzeihen gelernt, sondern habe seit einigen Jahren auch mit Weihnachten meinen Frieden geschlossen. Der grosse Feierbär bin ich aber nach wie vor noch nicht. Während der Festtage wird jedoch nicht gedreht und es finden auch keine Lesungen statt und deshalb ist auch bei mir zwangsweise Besinnung angesagt.
Hoffen Sie auf ein Jenseits?
Ich hoffe nicht auf ein Jenseits, obwohl ich als Katholik und Christ auf die Welt gekommen bin. Wenn es ein Jenseits gibt, ist das aber okay für mich. Ich habe in meinem Leben aber nie Gutes getan, weil ich hoffte, mir so den Himmel verdienen zu können. Ich habe das, was ich getan habe, immer ohne Netz und ohne doppelten Boden getan (lacht).
Der erste Teil des Gesprächs mit Joe Bausch erschien gestern Samstag, 14. Dezember, auf blue News.
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