Interview Wird es bald möglich sein, den Alterungsprozess zu stoppen?

Von Runa Reinecke

18.6.2020

Sportlich aktiv sein und bleiben – je früher man damit anfängt, desto besser. 
Sportlich aktiv sein und bleiben – je früher man damit anfängt, desto besser. 
Bild: Getty Images

Ob wir im Alter dement werden, hängt geschätzt zu einem Drittel von beeinflussbaren Faktoren ab. Wie können wir dieses Potenzial für uns nutzen? Werden wir schon bald auf ewig jung bleiben? Ein Experte für Altersmedizin klärt auf.

Wir hadern damit, foutieren uns gern darum, das eigene wahrheitsgetreu zu beziffern – und doch sind wir ständig mit dem Alter und dem Altern konfrontiert. Alt werden, das möchten wir, das belegt auch die heute erschienene «Sanitas Health Forecast»-Studie.

Wie wir altern und wie gut wir in der letzten Phase unseres Lebens «zwäg» sind, das hängt auch von uns selbst ab, sagt Prof. Dr. med. Andreas Stuck. Der Experte für Altersmedizin findet: «Es ist nie zu spät für Prävention und Veränderungen im Leben.»

Herr Stuck, haben Sie sich schon einmal darüber Gedanken gemacht, wie alt Sie werden möchten?

Wenn ich es mir aussuchen könnte, wäre es natürlich schön, wenn ich gesund bleiben und 100 Jahre alt werden dürfte. Ich habe aber Respekt vor dem Alter, und weiss nur zu gut, dass es auch anders kommen kann. Deshalb wünsche ich mir, falls ich alt, aber krank werde, dass mir dann eine gute medizinische und pflegerische Betreuung zur Verfügung stehen wird.

Alt werden, das wollen die meisten – alt zu sein, damit haben viele von uns Schwierigkeiten. Warum ist das Altern mit einem grossen Stigma behaftet?

Ich verstehe das gut, für viele Menschen bringt das Alter auch Einschränkungen oder Verluste, die schwierig zu tragen sind. Und das Alter passt so gar nicht in unsere Gesellschaft, in der das aktive Berufsleben und die Leistungsfähigkeit im Mittelpunkt stehen.

Ist der Wunsch, bis ins hohe Alter gesund zu bleiben, utopisch?

Es kommt darauf an, was wir unter ‹gesund› verstehen. Heute gibt es viele Menschen, die auch im hohen Alter körperlich und geistig gut beweglich sind, das ist also keine Utopie. Wenn der Wunsch aber ist, in jeder Hinsicht gesund zu sein, nie Schmerzen zu haben, nie eine medizinische Behandlung zu benötigen, kein Medikament einnehmen zu müssen, dann ist das eine Utopie. Im hohen Alter haben fast alle Menschen gesundheitliche Einschränkungen.

Zur Person: Andreas Stuck 
Bild: zVg

Prof. Dr. med. Andreas Stuck ist Experte für Altersmedizin. Er ist Klinikdirektor und Chefarzt der Geriatrischen Universitätsklinik an der Insel Gruppe Bern und ist ordentlicher Professor für Geriatrie an der Universität Bern. Er setzt sich als Präsident der Schweizerischen Fachgesellschaft für Geriatrie für Fragen der Gesundheitsversorgung von älteren Menschen in der Schweiz ein.

Welchen Einfluss haben genetische beziehungsweise Umweltfaktoren darauf, dass wir an Gelenkverschleissleiden wie Arthrose oder an Demenz erkranken?

Arthrose und Demenz sind typische Alterskrankheiten, also Leiden, die meist erst im Alter auftreten. Dies, weil sich beide schleichend über viele Jahre entwickeln und langsam fortschreiten. Und bei beiden spielen genetische Faktoren und Umweltfaktoren bei der langsamen Krankheitsentstehung eine wichtige Rolle.

Welche Faktoren sind bei der Entwicklung einer Demenz stärker zu gewichten: die Genetik oder alles, was wir selbst beeinflussen können?

Es gibt statistische Schätzungen, bei denen man davon ausgeht, dass die Entstehung einer Demenz zu etwa zwei Dritteln von genetischen Faktoren und zu einem Drittel von beeinflussbaren Faktoren abhängig ist.

So beeinflusst etwa die Schulbildung und die Art der beruflichen Tätigkeit das spätere Demenzrisiko stark. Gerade bei der Demenz ist es jedoch so, dass beeinflussbare Faktoren das Entstehen einer Demenz zwar verzögern, aber meist nicht verhindern können.

Es lohnt sich also, frühzeitig aktiv zu werden?

Eine geistig aktive Lebensweise ist im Sinne einer Demenzprävention sicher wichtig. Gerade im Alter kommt es beim Training der kognitiven Fähigkeiten vor allem darauf an, wie wir unser tägliches Leben gestalten. Alles, was auf unterschiedliche Weise unser Gehirn herausfordert, ist auch kognitives Training. Das kann ein Hobby sein, eine Aufgabe wie Betreuung von Kindern, eine Vereinsaktivität, eine Fremdsprache neu zu lernen oder aufzufrischen, einfach alles, was uns im Alltag aktiv herausfordern kann. Sich alleine auf das Gehirn zu konzentrieren, wäre aber unzureichend.

Inwiefern?

Für die Demenzprävention ist auch ein gesundes Herz-Kreislauf-System besonders wichtig. Alles, was wichtig für ein gut funktionierendes Herz und gesunde Gefässe ist, ist auch gut für unser Gehirn beziehungsweise dessen Durchblutung.

Dazu gehört eine gute medizinische Vorsorge, zum Beispiel, dass man als Diabetiker oder als Bluthochdruckpatient optimal eingestellt ist und ärztlich betreut wird. Positiv wirkt sich regelmässige körperliche Bewegung aus. Übergewicht sollte man hingegen vermeiden, genauso wie übermässigen Alkoholgenuss oder das Rauchen.

Apropos Bewegung. Ist Sport grundsätzlich eher gut oder schlecht, um einer Arthrose vorzubeugen?

Das lässt sich so pauschal nicht sagen, denn es gibt Sportarten, die für die Beweglichkeit und Funktion der Gelenke förderlich sind. Und es gibt solche, die diese stark belasten und deren Verschleiss fördern. Welches Bewegungsprogramm sich eignet, sollte man am besten persönlich mit dem Hausarzt oder der Hausärztin besprechen. Jemand mit Knieproblemen muss sich anders bewegen als eine Person, die Rückenbeschwerden hat.

Auf was sollten ältere Menschen beim Trainieren besonders achten?

Zuerst gilt es, mit der Hausärztin oder dem Hausarzt zu besprechen, welches Training sinnvoll ist. Auch im Alter sollte man sich – wenn möglich – täglich eine halbe Stunde körperlich fordern. Optimal ist eine Mischung aus Ausdauer, Kraft, Gleichgewicht und Koordination.

Zu beachten gilt es, dabei zu bleiben, also regelmässig zu trainieren, deshalb darf die Freude an der Bewegung nicht zu kurz kommen: Die einen gehen gern ins Fitnessstudio, andere trainieren lieber in einem Verein, und wieder andere gehen spazieren und turnen zu Hause.

Leserangebot: «Gesundheit der Zukunft»
Bild: zVg

«Bluewin»-Leserinnen und -Leser können das Buch «Health Forecast – Gesundheit der Zukunft» unter dem Codewort bw20gz zum Spezialpreis von 16 statt 18 Fr. (inkl. Porto und Verpackung) bestellen. Entweder direkt über die Homepage: www.woerterseh.ch, per E-Mail: leserangebot@woerterseh.ch oder telefonisch unter: 044 368 33 68. Achtung: Codewort nicht vergessen.

Was kann Rehabilitation bei Menschen im höheren Lebensalter leisten?

Aktuelle Studien belegen: Neu auftretende Krankheiten, die so schwer verlaufen, dass sie im Spital behandelt werden müssen, sind für betagte Patientinnen und Patienten ein grosses Risiko. Schon eine Bettlägerigkeit von einer Woche kann zu dauernder Pflegebedürftigkeit führen. Viele Hochbetagte können sich jedoch auch nach einem längeren Spitalaufenthalt so gut erholen, dass ihnen danach ein selbstbestimmtes Leben zu Hause wieder möglich ist.

Voraussetzung dafür sind gute Rehabilitationsmassnahmen. Leider besteht die Gefahr, dass solche Angebote für Seniorinnen und Senioren in unserem Gesundheitssystem weggespart werden. Ich finde es wichtig, dass nicht nur in eine «Reparaturmedizin», sondern auch in die Rehabilitation investiert wird.

Der Schauspieler Johannes Heesters hatte im Alter von 103 Jahren mit dem Rauchen aufgehört. Ein Beispiel, dem man also auch im hohen Alter folgen sollte?

Es ist nie zu spät für Prävention und Veränderungen im Leben. Es lohnt sich also auf jeden Fall, den eigenen Lebensstil zu ändern und zum Beispiel mit dem Rauchen aufzuhören. Dieses Beispiel ist aber eine grosse Ausnahme. Die meisten Raucher werden gar nicht so alt.

Die heute erschienene Studie ‹Gesundheit der Zukunft› (siehe Box unten) zeigt: Unter den 60- bis 74-Jährigen (75 Prozent) gibt es deutlich mehr Menschen, die auf genügend Bewegung an der frischen Luft achten, als bei den Jüngeren (59 Prozent). Zudem legen Ältere (69 Prozent) mehr Wert auf eine gesunde Ernährung als die jüngeren Befragten (57 Prozent). Überrascht Sie das?

Wir wissen, dass für viele Menschen mit zunehmendem Alter die Gesundheit immer wichtiger wird, und dass ältere Menschen sich deswegen oft auch sehr bemühen, gesund zu bleiben. Darum überrascht es mich nicht, dass sich ältere Menschen besonders gesundheitsbewusst zeigen.



Trotzdem bin ich als Arzt auch skeptisch. Ich glaube kaum, dass sich 75 Prozent der über 60- bis 74-jährigen Personen in der Schweiz wirklich genügend bewegen. Genügend heisst für mich, eine halbe Stunde jeden Tag eine intensivere körperliche Tätigkeit ausüben. Und das ist ein Ziel, das gar nicht so einfach zu erreichen ist.

Welchen Einfluss haben Ernährung und Fasten auf den Alterungsprozess?

Die Ernährung spielt auch hier eine wichtige Rolle. Ein Grundsatz einer gesunden Ernährung ist das Prinzip der mediterranen Kost mit einem grossen Anteil an Früchten und Gemüse. Im höheren Alter ist zudem eine ausreichende Zufuhr von Eiweiss wichtig. Damit die Muskulatur im Alter funktioniert, muss sie täglich durch Bewegung stimuliert und mit deutlich mehr Proteinen versorgt werden als in jüngeren Jahren.

Gute Eiweissquellen sind nicht nur Fisch oder Fleisch, sondern auch Hülsenfrüchte oder Eier und Milchprodukte. Ältere Menschen sollten idealerweise täglich fünf Mahlzeiten mit jeweils einer Eiweisskomponente zu sich nehmen.

Vom Fasten rate ich gerade im höheren Alter unbedingt ab. Beim Fasten wird im Alter nicht zuerst das Fett, sondern die Muskulatur abgebaut, und das ist schädlich.

Wissenschaftler erforschen unterschiedliche Therapien, die in Zukunft ein längeres, gesünderes Leben ermöglichen oder sogar den Alterungsprozess aufhalten sollen …

Ein Schalter, den man umlegen und dadurch den Alterungsprozess stoppen oder sogar umkehren kann, wurde bis jetzt nicht gefunden, und den gibt es wohl auch nicht. Das Altern ist ein komplexes Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren. Immerhin gibt es interessante Forschungsansätze. Zum Beispiel versucht man die Telomere, die Schutzkappen unserer Chromosomen, zu verlängern, damit sie die Zellteilung nicht einstellen.



Und es werden Medikamente getestet, die dafür sorgen sollen, dass es weniger Abfallprodukte in den Zellen gibt, die den Alterungsprozess vorantreiben, Krankheiten fördern und schliesslich zum Tod führen.

Diese Forschung ist wichtig, für die Praxis gehe ich aber nicht davon aus, dass es in den kommenden 30 Jahren eine Therapie geben wird, die dazu führt, dass Menschen über 120 Jahre alt werden können oder dass wir keine Pflegeheime mehr brauchen.

Die Realität in den nächsten 30 Jahren wird so aussehen, dass es trotz allen Fortschritten in der Medizin und trotz Prävention in der Schweiz eine deutliche Zunahme von pflegebedürftigen, hochbetagten Menschen geben wird. Gute medizinische und pflegerische Versorgung für diese Menschen wird ganz wichtig sein, damit sie auch im hohen Alter eine möglichst gute Lebensqualität haben.

Der Health Forecast: «Gesundheit der Zukunft»

Während die 18- bis 29-jährigen Männer gerne 108,5 Jahre alt werden möchten, gibt sich die gleiche Altersgruppe der Frauen mit 93,4 Jahren zufrieden. Das ergibt sich aus dem «Sanitas Health Forecast», der ersten landesweiten Studie zum Thema «Gesundheit der Zukunft», für die 2'000 Menschen im Alter zwischen 18 und 74 Jahren hierzulande befragt wurden. Die repräsentative Umfrage zeigt nicht nur Unterschiede zwischen den Geschlechtern auf. Sie enthüllt auch, wie offen sich die Schweizerinnen und Schweizer gegenüber digitalen Gesundheitstrends zeigen und wagt einen Ausblick in die Therapien der Zukunft. Hinzu kommen Experteninterviews und Fachartikel von 30 Autoren sowie zahlreiche weitere Informationen rund ums Thema Gesundheit. 

Leserangebot

«Bluewin»-Leserinnen und -Leser können das ab sofort jährlich erscheinende Buch «Health Forecast – Gesundheit der Zukunft» unter dem Codewort bw20gz zum Spezialpreis von 16 statt 18 Fr. (inkl. Porto und Verpackung) bestellen. Entweder direkt über die Homepage: www.woerterseh.ch, per E-Mail: leserangebot@woerterseh.ch oder telefonisch unter: 044 368 33 68. Achtung: Codewort nicht vergessen.

Stigmatisiert wegen des Alters? Von wegen

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