ErfahrungsberichtMuss ich schweres Leiden im hohen Alter ertragen lernen?
Von Kurt R. Spillmann
23.1.2021
Wie spüre ich den Beginn des Alters? Und was will dieser Lebensabschnitt mit der Unerbittlichkeit seines immer näher kommenden Endes im Tod von mir? Der Erfahrungsbericht eines 83-jährigen Mannes.
Der Übergang vom Erwerbs- und Berufsleben in den sogenannten Ruhestand wird ganz allgemein als Beginn des letzten Lebensabschnitts – des Alters – betrachtet. Die mit diesem Übergang verbundenen Erfahrungen und Empfindungen werden aber ganz unterschiedlich erlebt.
Kurt R. Spillmann ist 83. Er war unter anderem Mitglied der Kommission «Altersfreitod» bei der Sterbehilfeorganisation Exit. Hier berichtet er über seine persönlichen Erfahrungen und Erkenntnisse beim Alt- und Älterwerden.
Die Erfahrung des Verlustes des gewohnten Tagesablaufs, das Wegfallen der im Beruf und durch den Beruf erworbenen Identität und der damit verbundenen sozialen Beziehungen verweben sich. Es werden aber zunächst die positiven, vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten sichtbar. Allerdings hat die Corona-Pandemie uns allen – besonders uns Hochaltrigen – nun neue, schwierige Einschränkungen und gravierende Verminderungen der Lebensqualität auferlegt, von denen wir zurzeit nur ein Ende in noch erlebbarer Zukunft erhoffen können.
Unsere Gesellschaft nimmt den in der Öffentlichkeit sichtbaren Teil von uns Älteren als lebensfrohe, aktive und vielseitig interessierte, muntere Kohorte wahr. Beim Reisen und Wandern, beim Sport, bei der Weiterbildung an den zahlreichen Senioren-Universitäten, bei Konzert- und Theaterbesuchen, in der Enkelbetreuung – in allen Sparten sind die angegrauten, grauen und weissen Häupter in Vielzahl sichtbar.
Nicht alle sind jedoch vom Schicksal auf diese Weise begünstigt und müssen – von schweren Leiden gezeichnet – ihr Leben schon vor dem Hochalter in Obhut betreuender Mitmenschen verbringen. Für sie bringt der Übergang ins Hochalter kaum mehr grosse Überraschungen oder gar Freiräume. Sie haben den Umgang mit immer mehr Defiziten und immer schwereren Leiden schon früher lernen oder sich mit ihnen abfinden müssen.
Doch für die Gruppe der vom Schicksal begünstigten «Munteren» überwiegt ein Gefühl der Erleichterung: Endlich bin ich von jenen Routinen und regelmässigen Pflichten befreit, die jedes Berufsleben mit sich bringt. Endlich kann ich einigermassen frei über meine Zeit verfügen, Freundschaften und Hobbys pflegen, reisen. Ich kann auswählen, welche Arbeiten ich noch ausführen beziehungsweise annehmen will, wie viel Zeit ich dieser oder jener Tätigkeit widmen will. Und alt – im Sinne von «sichtbar alt» – bin ich ja schliesslich noch lange nicht.
Wirkungsfeld wird kleiner, Interesse bleibt gross
Wann beginnt denn das Alter wirklich? Mit 65, wie der Europarat in seinen Dokumenten sagt? Oder schon mit 60, wie die UNO meint?
Die Frage ist falsch gestellt, denn eine allgemein gültige Ziffer lässt sich nicht benennen. Die Frage müsste vielmehr lauten: Wie spüre ich den Beginn des Alters? Wie macht es sich bemerkbar? An welchen Veränderungen erkenne ich den Übergang ins Alter?
Wenn ich mit 65 Jahren in Pension gehe, fühle ich mich auf der Höhe meiner beruflichen Kompetenz, auch mein Körper funktioniert ohne – oder mit nur geringen – Abstrichen. In unseren Breitengraden habe ich keine materielle Not zu befürchten, auch wenn ich vielleicht einige Einschränkungen in Kauf nehmen muss. Meine Lebenserfahrungen sind relativ breit.
Ich meine, mit den normalerweise zu erwartenden Wechselfällen des Lebens fertig werden zu können, die meisten grundlegenden Erfahrungen des Menschseins gemacht zu haben und keine völlig unerwarteten Überraschungen fürchten zu müssen. Und wenn ich mir die Stimmung nicht selber vermiese, kann ich diese Jahre des Herbstes des Lebens entspannt geniessen, auch wenn ich weiss, dass die vor mir liegende Zeit immer kürzer wird.
Ganz allmählich jedoch – zunächst kaum wahrgenommen – beginnen mich Veränderungen in meiner selbstverständlichen körperlichen Souveränität zu irritieren und zu verärgern. Meine Energien nehmen ab – wenn auch nur in ganz kleinen Schritten –, ebenso meine Gestaltungs- und Durchsetzungskraft. Mein Wirkungsfeld wird kleiner, auch wenn mein Interesse an der Welt gross und wach bleibt. Kann ich mich dagegen wehren?
Die Besuche beim Arzt werden zahlreicher, die Behälter mit Medikamenten, die ich täglich einzunehmen habe, ebenfalls. Ich verwende mehr Gedanken und mehr Zeit auf meine Gesundheit. Ich mache regelmässig Spaziergänge, besonders in der gesunden Luft des nahen Waldes, vielleicht mache ich Übungen zur Erhaltung der geistigen und körperlichen Beweglichkeit. Auf jeden Fall nehme ich die Reduktion meiner Souveränität nicht ohne Widerstand hin.
Ich lese strenger aus, welchen Menschen, welchen Gegenständen und welchen Themen ich meine Zeit und Aufmerksamkeit widme. Dies schon darum, weil die Zeit knapper wird, nicht nur die noch verfügbare Lebenszeit, sondern auch die Zeit im Alltag. Denn ich bin langsamer geworden und brauche für alles – auch die alltäglichen Tätigkeiten – mehr Zeit als früher.
Was fordert das Hochalter von mir?
So ungefähr mit dem 80. Lebensjahr scheint eine Schwelle auf mich zu warten, die Schwelle zum Hochalter.
Bisher habe ich mich an ein langsames Älterwerden gewöhnen können, das mir zwar laufend kleine Einschränkungen auferlegte, die aber trotz ihrer kumulativen Wirkung insgesamt noch nicht als Verlust der Lebensqualität spürbar wurden. Im Gegenteil: Sie wurden aufgewogen (vielleicht mehr als aufgewogen) durch die Zugewinne an Freiheit, an Selbstverfügung über die Zeit.
Nun kommt die Schwelle zum Hochalter, die ich überschreiten muss, ein Lernschritt, den ich – auch wenn ich das gar nicht möchte – bewältigen muss und der mir die Beantwortung neuer und schwieriger Fragen abfordert: Wie gehe ich um mit parallel sich einstellenden und jetzt spürbarer werdenden Verminderungen der Leistungsfähigkeit von Augen, Ohren, Muskeln, Knochen, – mit zunehmender Unsicherheit des Gleichgewichtes beim Gehen, auch mit sich vermindernder Entschlusskraft, Ausdrucksfähigkeit, Gedächtnisleistung und Schnelligkeit im Denken?
Wie passt rascheres Ermüden zu häufig vorkommender, stundenlanger Schlaflosigkeit während der Nacht? Wie gehe ich um mit der laufenden Reduktion meines Aktionsradius, mit den zahlreicher werdenden Todesfällen von Freunden und Bekannten in meiner näheren Umgebung: Es mehren sich einschneidende Beziehungsverluste. An die unvorstellbare Leere nach dem Verlust des Lebenspartners wagt man kaum zu denken. Schmerzvolle Einsamkeit lässt Räume voll unbekannter Dunkelheit entstehen.
Was will dieser Lebensabschnitt mit der Unerbittlichkeit seines immer näher kommenden Endes im Tod noch von mir? Er fordert Annahme der vom Körper auferlegten Einschränkungen, auch die Bereitschaft, mit körperlichen Schmerzen umzugehen, sogar auf Dauer damit zu leben, auch psychisches Leiden – zum Beispiel Trauer durch Verluste – zu ertragen, und er fordert Akzeptanz für die Verkleinerung des Kreises meiner äusseren Aktivitäten und der mir wichtigen Beziehungsnetze.
Das Hochalter fordert also: Neues zu lernen, vor allem (und am schwierigsten), das Verzichten, das Abschiednehmen zu lernen: von lieb gewordenen Dingen, von Menschen, von Wünschen, von Aspirationen, von Gewohnheiten, vom Gefühl der uneingeschränkten Selbstverfügung. Es fordert, sich mit der Unausweichlichkeit und der Nähe des Todes auseinanderzusetzen und den damit verbundenen Fragen nicht durch ein Übermass an Ablenkung und leichter Unterhaltung – die uns auf allen Kanälen und Wegen im Übermass angeboten wird – auszuweichen.
«Wessen er bedarf, ist Stille»
Der Dichter Hermann Hesse liess im hohen Alter folgende Inschrift des alten chinesischen Weisen Meng Hsiä am Eingang zu seinem Grundstück anbringen, (sicher auch um die Scharen neugieriger Touristen abzuwehren):
«Wenn einer alt geworden und das Seinige getan hat, dann steht ihm zu, sich in der Stille mit dem Tode zu befreunden. Nicht bedarf er der Menschen. Er kennt sie, er hat ihrer genug gesehen. Wessen er bedarf, ist Stille. Nicht schicklich ist es, einen solchen aufzusuchen, ihn anzureden oder ihn mit Schwatzen zu quälen. An der Pforte seiner Behausung ziemt es sich vorüberzugehen, als wäre es niemandes Wohnung.»
Es waren natürlich Hesses eigene Worte, die er da anbrachte, aber die allgemeine und überzeitliche Gültigkeit der Aussage sollte durch die würdevolle Altertümlichkeit der Sprache noch unterstrichen werden. Klar war der Sinn von Hesses Aussage: Wenn Du alt geworden bist, lerne ans Ende zu denken, dieses definitive Ende in heiterer Gelassenheit anzunehmen und die damit einhergehenden Gedanken nicht zu übertönen oder zu verdrängen durch Belanglosigkeiten.
Und das ist vielleicht die schwierigste und anspruchsvollste der Lektionen und Lern-Anforderungen: den Prozess der fortschreitenden Entmündigung geistig zu verarbeiten und zu akzeptieren, loszulassen ohne Bitterkeit. Ein Lernprozess, der wohl bis zum letzten Atemzug andauert, der aber keine völlige Abkehr von der Welt meint.
Nicht jedermann mag Hermann Hesses mönchische Neigungen teilen. Und in der Tat hält das Leben ja auch im hohen Alter noch viele schöne Erlebnisse und Überraschungen bereit. Es kann ja sein, dass früher ausgesäte Samen aufgegangen sind und erwartet oder unerwartet Frucht bringen. Positive Rückmeldungen aus jahrelang zurückliegenden Begegnungen können grosse Lichtgeschenke sein. Die Beziehungen zu den eigenen Kindern und Grosskindern werden immer inniger, auch wenn sie vielleicht wegen beruflicher Inanspruchnahme der jüngeren Generationen weniger intensiv gepflegt werden können. Und die Entfaltung von Enkelinnen und Enkeln können in unseren Breitengraden von den meisten mit Freude und Genugtuung miterlebt werden.
Der richtige Moment
So halten sich im glücklichen Fall Verzicht und Reduktion auf der einen Seite und kleine Freuden positiven Miterlebens und Geniessens auf der anderen Seite die Waage. Auch wenn diese vielleicht phasenweise übertönt werden durch körperliche oder seelische Schmerzen, die selbst bei grosser Lernbereitschaft nur schwer auszuhalten sind.
Muss ich das ertragen lernen? Muss Leiden sein? Gar dauerhaftes schweres Leiden? Ist mir das auferlegt?
Je nach persönlicher Überzeugung wird der Glaubende diese Frage bejahen und sich ins Unabänderliche zu fügen versuchen. Oder der Agnostiker – zu denen sich der Schreibende zählt – sorgt vor, indem er einen selbstbestimmten Tod in Würde ins Auge fasst. Er bespricht seinen Abschied vom Leben mit den Nächsten vor und versucht mithilfe fachkundiger Freunde den Moment richtig zu bestimmen, an dem er sich dann verabschieden und sagen kann: «Das Ziel ist erreicht.»