Sterbehilfe Für Rolf Gyger wird der Tod kein ungebetener Gast sein

Von Katrin Sutter

15.11.2020

Als ehemaliger Bestatter hat Rolf Gyger vielen Menschen einen letzten Dienst erwiesen. Nun plant er den eigenen Abschied.
Als ehemaliger Bestatter hat Rolf Gyger vielen Menschen einen letzten Dienst erwiesen. Nun plant er den eigenen Abschied.
Bild: zVg

Er war 38 Jahre lang Bestatter in Zürich. Zum Tod hat Rolf Gyger, 65, eine besondere Beziehung. Auch zum eigenen, der wegen seiner multiplen, schweren Beschwerden dereinst eine Erlösung sein wird – ein Bilanzstrich nach einem erfüllten Leben.

Rolf Gyger klingt beschwingt während unseres ersten Telefongesprächs, ist sofort bereit, anlässlich eines Treffens über seine Arbeit und seinen bevorstehenden Tod zu erzählen.

Man stellt sich am anderen Ende der Leitung einen rüstigen Rentner vor. Ein Mann mit Generalabonnement, vielleicht im Vorstand eines Vereins, sicher mit voller Terminagenda. Ein Rentner, der zupacken kann, einer mit Plänen für die nächsten 20 Jahre im Ruhestand.

Auch seine fröhliche Textnachricht kurz vor dem Treffen deutet in keiner Weise darauf hin, dass der zu Interviewende ein Mensch ist, der im Gespräch häufig Sätze wie «ich kann nicht mehr», «ich habe Schmerzen von morgens bis abends und vom Abend bis zum Morgen» verwendet. Die beschwingte Stimme, die Vorfreude aufs Gespräch – sie täuschen.

«Ich hatte ein reich erfülltes Berufsleben»

Rolf Gyger ist ein Mensch, der wenn auch erst seit zwei Jahren pensioniert, sein Leben gelebt hat. Ein Mensch, der zufrieden und erfüllt ist. Ein Mensch, der alles erreicht hat, was er erreichen wollte. Ein Mensch ohne heimliche Träume für nach der Pensionierung. Und vor allem ist er ein Mensch, der mit einem Körper zu leben hat, der schon Unvorstellbares mitgemacht hat.

Aber das ist zuallererst nicht Thema beim Treffen mit Rolf Gyger. Viel lieber als über die chronischen Schmerzen und über die erlittenen körperlichen Traumata spricht er über seinen Beruf. Seine ersten Worte nach der Begrüssung: «Ich hatte ein reich erfülltes Berufsleben, das mir sehr viel gegeben hat.» Rolf Gyger war 38 Jahre lang im Dienst des Bestattungsamts der Stadt Zürich angestellt, eingeteilt im Fahrdienst. Ein Beruf, der entgegen der Bezeichnung viel mehr mit Menschen als mit Fahren zu tun hat.

«Können Sie sich vorstellen, beim Umbetten ihres Vaters zu helfen?» «Soll ich die Angehörigen verständigen und hier mit Ihnen warten, bis diese kommen? Wir nehmen Ihre Frau erst danach mit.» Solche Sätze richtete Rolf Gyger an Angehörige. Sein ehemaliger Beruf ist ein zutiefst menschlicher. Wo er hinkam, traf er Leid an. Aber mit seiner ruhigen und doch zupackenden Art – und vor allem mit seiner Freude an Menschen – war er die ideale Besetzung. «Ich wollte immer schon eine Tätigkeit im Dienste des Menschen ausführen», erzählt Gyger.



Als er als junger Berufsmann als Aushilfe in einem Altersheim tätig war, fielen ihm die Teams auf, die immer zu zweit unterwegs waren. Er sprach sie auf ihren Beruf an. Bestatter seien sie, meinten sie zum interessierten jungen Mann. Bestatter: Nicht die Tätigkeit, die gemeinhin von jungen Menschen als Traumberuf genannt wird.

In Rolf Gygers Jugend wollte man Lokführer bei den SBB werden, man träumte von einer Tätigkeit bei der Swissair oder wenigstens der PTT, der Vorläuferin der heutigen Swisscom. Da zog es auch Rolf Gyger Beruf, der den jungen Mann, aufgewachsen in einem Aussenquartier der Stadt Zürich, aber nicht zu begeistern vermochte. Seine Talente, das hat er bald gemerkt, liegen nicht in der Technik, sondern im Menschlichen.

Anteilnahme statt Mitleid

Die wichtigsten Werte seines Berufs kann Rolf Gyger in zwei knappe Sätze fassen: «Anteilnahme statt Mitleid mit den Angehörigen» und «Das Menschsein hört für mich nicht mit dem Tod auf.» Zwei Sätze nur, aber sie beschreiben den Mensch Rolf Gyger treffend. Ein Mann mit sehr viel Empathie, mit Respekt und einer Ruhe, die Menschen in der Not einen Halt bieten kann.

Und auch, wenn er «nur» der Bestatter ist, ist er für viele, die gerade erst einen Angehörigen verloren haben, die Person, die Rat erteilt und Anteil nimmt. Und für Mitgefühl gäbe es auch keine Zeitvorgaben: «Manchmal waren wir nur 20 Minuten vor Ort, manchmal mussten wir auch zwei Stunden bleiben, je nach vorgefundener Situation.» Wenn er neue Kollegen ausbildete, wurde er nicht müde, auch seine Berufsüberzeugung weiterzugeben. «Ihr sollt Anteil nehmen, Mitgefühl haben – aber kein Mitleid. Wir können besser helfen, wenn wir empathisch sind statt mitleidig.»

Und für Rolf Gyger ist klar, das Menschsein hört für ihn mit dem Tod nicht auf. Wenn er über Verstorbene spricht, spricht er von «Ihrer Frau», «Ihrem Vater», «Ihrem Kind». «Für die Medizin, für die Ämter und für die Justiz ist ein Mensch nach dem Tod ausgelöscht und sie sprechen von der Leiche – für mich bleibt das aber weiterhin Herr Müller oder Frau Meier.»

Schon fast wütend erinnert er sich an eine Hebamme, die ihm ein Engelskind, also ein während der Schwangerschaft verstorbener Embryo, in einem Abfallsack ausgehändigt hat. «Ich habe dem Geschöpfchen ein kleines Kleid aus Verbandsmaterial genäht und es schön ins Särglein gebettet.» Für Kindersärge habe er, so erzählt er weiter, immer eine besonders fröhliche Blumendekoration gewählt.

Die Würde zurückgeben

«Als Bestatter kann ich dem Menschen einen letzten Dienst erweisen. Ich kann die Person waschen, bereit machen – und wenn es beispielsweise ein Unfalltod war, den Menschen wieder so gut versorgen, dass er seine Würde zurückerhält.» Würde ist ein Begriff, den Rolf Gyger häufig verwendet. Im Zusammenhang mit seiner Arbeit aber auch mit seiner Person.

Er, der in seinen Berufsjahren mit vielen Suiziden konfrontiert wurde, schätzt die Alternative, die die Sterbehilfeorganisation Exit todkranken Menschen bietet. Er erinnert sich an die spezielle Stimmung, die er bei solchen Todesfällen angetroffen hat. «Wenn ich jemand abholen kam, der mit Exit aus dem Leben geschieden war, dann war das oft anders als bei sonstigen Todesfällen.» Man spüre, dass diese Person und auch ihr Umfeld sich auf den Tod vorbereiten konnten. Es herrsche eine ruhige, gefasste Stimmung.

Als ein Freund im hohen Alter und mit einer schweren Diagnose den begleiteten Suizid wählte, war Rolf Gyger während dessen letzten Stunden dabei. Er konnte so selbst eine Sterbebegleitung miterleben und war tief beeindruckt, wie ruhig, empathisch und würdevoll das Abschiednehmen verlief. Bisher Exit-Mitglied aus Überzeugung, wusste er danach, dass er sich dereinst auch einen solchen Tod wünschen würde. Ein Tod im hohen Alter wie bei seiner Mutter, die einfach einschlafen durfte mit dem Sohn, der neben ihr wachte, wird Rolf Gyger nicht vergönnt sein. Multiple Diagnosen verkürzen seine Lebenserwartung. Dauerhafte starke Schmerzen und Beschwerden durch Vorerkrankungen machen seinen Alltag und das Leben teilweise schwer erträglich. Die Details dazu möchte er für sich behalten.



Hingegen erzählt er von den Operationen, die er seit früher Kindheit über sich ergehen lassen musste, und dass er diese längst nicht mehr zählen kann. Dass es dabei regelmässig auch zu lebensbedrohlichen Komplikationen kam, vermag ihn nicht einmal mehr zu erstaunen oder erschüttern: «Ich sage immer, Gott hat mir einen Montagskörper gegeben.» Am Montag möge man halt manchmal weniger gut arbeiten, das Produkt deshalb fehleranfälliger.

Und mit diesem Montagskörper zu leben, wird für den 65-Jährigen von Tag zu Tag schwieriger, die Atemluft zum Leben immer weniger. Der Körper lädiert, die Seele traumatisiert von den vielen Spitalaufenthalten. «Noch eine weitere Operation mitzumachen, noch eine weitere Komplikation zu erleben, ist für mich absolut unvorstellbar.» Der Montagskörper ist müde, sehnt sich danach, wie er das Sterben beschreibt, «von der Raupe zum Schmetterling zu werden», «zurückzukehren, heimzugehen». Rolf Gyger, der selbst so viele Verstorbene gesehen hat, hat eine spirituelle Sicht auf den Tod und fürchtet ihn nicht.

Bilanz ziehen

Von seiner Wohnung in Affoltern Zürich ist es nicht weit zum Friedhof. In guten Tagen, wenn der Körper mitmacht, spaziert er hierhin. Er ist gerne hier, nicht weil er jemanden besuchen möchte, sondern der friedvollen Ruhe wegen, die von diesem ausgeht. Auf Friedhöfen herrsche eine Atmosphäre, die ihn beseelt. Und während er für Porträt-Fotos posiert, erfreut er sich am Vogelgezwitscher, zeigt auf Blumen, die ihm gefallen und die er für Sargdekorationen verwendet hat. Er sagt aber auch, er selbst möchte nicht hier begraben werden. Der Wind soll seine Asche dereinst hintragen, wohin der Wind sie tragen wolle.

In diesen Sommertagen kurz nach dem Corona-Lockdown ist er dabei, sein Leben zu ordnen, Abschied zu nehmen. «Ich wirke fröhlich und bin beschäftigt – und doch, wäre mein Körper ein Auto, es wäre schon längst ausgemustert worden.» Rolf Gyger sagt, er sei dankbar für sein Leben, er habe mit allen Menschen Frieden geschlossen, keine Rechnung mehr sei offen, alles aufgeräumt. Zeit zu gehen. Die Familie weiss, dass der Abschied vom Vater, vom Bruder, vom Exmann bevorsteht, wünscht sich aber, dass er noch Weihnachten mit ihnen verbringen wird.

Auch Freunde und ehemalige Arbeitskollegen informiert er darüber, dass er nicht mehr lange weiterleben kann und will. Er wird Anfang nächsten Jahres gehen, das steht für ihn fest. So gibt er ihnen die Chance, noch Fragen zu stellen, sich von ihm zu verabschieden. Und wieder spricht er die Worte aus, mit denen er unsere Unterhaltung begonnen hat. Sein Leben sei erfüllt gewesen. Er habe es bereits zu Ende gelebt. Es gäbe nichts, von dem er noch träume.



Auch wenn er seinen Abschied am Planen ist, Rolf Gyger weiss, dass der Tod ganz viele Gesichter hat und immer wieder auch unvorbereitet über den Menschen und sein Umfeld hereinbricht. Wie schlimm auch immer ein Umstand war, der zum Tode einer Person geführt hat: Für Rolf Gyger war das Schöne an seinem Beruf, dass er einen letzten Dienst an einem Menschen ausführen und mit seiner Arbeit dem Verstorbenen nicht nur Würde, sondern vielleicht auch nochmals etwas Menschsein zurückgeben konnte.

Mit dem Chef des Bestattungsamts hat Rolf Gyger abgemacht, dass dieser ihn, oder vielmehr seinen Montagskörper dereinst abholen und den letzten Dienst an ihm verrichten wird, ihm das geben wird, was er selbst während all seiner Dienstjahre den Verstorbenen in Zürich gegeben hat. Und Gyger weiss, für ihn wird der Tod dereinst kein Schicksalsschlag oder ein viel zu früher, ungebetener Gast sein.

Nein, für ihn wird der Tod den erlösenden Schlussstrich unter seine Lebensbilanz ziehen. Eine Bilanz, die viel Freude, viel Anteilnahme, viel Wertschätzung, viel gelebtes Leben aufweist, aber auch eine, bei der am Ende die Schmerzen, die Krankheiten und der versehrte Körper überwiegten.

Das Porträt über Bestatter Rolf Gyger erschien zuerst im Magazin der Sterbehilfeorganisation Exit.


Brauchen Sie Hilfe? Hier können Sie darüber reden:

Dargebotene Hand: Telefon 143 oder www.143.ch

Online-Beratung für Jugendliche mit Suizidgedanken: www.U25-schweiz.ch

Angebot der Pro Juventute: Telefon 147, www.147.chKirchen: www.seelsorge.net

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