Sozialphobiker Sozialphobiker: «Ich muss mich sehr beherrschen, um nicht in Panik zu geraten»

Von Marianne Siegenthaler

20.3.2020

André H.*, Sozialphobiker: «Die Corona-Krise hat für mich auch etwas Positives: Endlich bemühen sich auch die anderen, mir nicht zu nahe zu kommen.» (Symbolbild)
André H.*, Sozialphobiker: «Die Corona-Krise hat für mich auch etwas Positives: Endlich bemühen sich auch die anderen, mir nicht zu nahe zu kommen.» (Symbolbild)
Bild: Getty Images

Abstand halten und Menschenmassen meiden – das ist momentan ganz wichtig. Das fällt vielen Menschen schwer. Wer an einer sozialen Phobie leidet, findet es aber ganz angenehm, wenn ihm niemand zu nahe kommt. Protokoll eines Sozialphobikers.

André H.* ist 31 Jahre alt, wohnt im Bernbiet in einem kleinen Dorf und arbeitet in der IT-Branche. Seit er sich erinnern kann, sind ihm grössere Menschenansammlungen und allzu viel Nähe ein Graus. «Bluewin» hat er seine Geschichte erzählt:

«Ich bezeichne mich selber ungern als Soziophobiker, das tönt so krank. Ich bin einfach überempfindlich, was die Menge und die Nähe anderer Menschen zu mir anbelangt. Es ist nicht so, dass ich Menschen nicht mag. Ich habe auch einige sehr gute Freunde.

Aber fremde Menschen in grossen Massen machen mir Angst. Der Bahnhof Bern zu Stosszeiten beispielsweise ist für mich ein Horror. Vom Zürcher HB ganz zu schweigen. Wenn ich inmitten vieler Menschen bin, muss ich mich sehr beherrschen, um nicht in Panik zu geraten. Am liebsten würde ich weglaufen. Ich kann es einfach nicht ertragen, wenn mir Menschen zu nahe kommen. Mich womöglich berühren.

«Dann bekomme ich Panik»

Dank meinem Beruf als IT-Spezialist kann ich glücklicherweise meistens zu Hause arbeiten. Wenn ich doch mal an einem Meeting im Betrieb anwesend sein muss, dann achte ich darauf, dass ich möglichst ausserhalb der Stosszeiten unterwegs sein kann.

Ein voller Zug macht mir nämlich nicht nur wegen der Menschen zu schaffen. Ich finde es auch eklig. Die Haltegriffe, der Türöffnungsknopf – ich will gar nicht daran denken, was da alles dranklebt. Darum gehe ich nie ohne Handdesinfektionsmittel aus dem Haus. Das war schon vor dem Coronavirus für mich selbstverständlich.



Ich weiss nicht, warum mir fremde Menschen so zusetzen. Vielleicht ist es bei den Menschen so wie bei Raubtieren. So sind zum Beispiel Tiger oder Löwen von einem unsichtbaren Kreis umgeben. Wenn man diese Grenze überschreitet, dann fühlen sich die Tiere provoziert und greifen an.

Bei mir ist es so, dass wenn fremde Menschen diese Grenze überschreiten, dann bekomme ich Panik. Und mein Kreis ist halt grösser als bei anderen und darum ist es für mich überall da schwierig, wo nicht viel Platz ist. Ich fahre deshalb auch niemals Lift, würde nie einen Fussballmatch besuchen, und wenn ich Skifahren gehe, dann nur an Orten, wo es einen Skilift oder eine Sesselbahn hat. Das ist okay, aber eine Seilbahn geht gar nicht.

«Seit dem Lockdown gibt’s kein Gedränge»

Aber das ist grad jetzt ja sowieso kein Thema. Und ganz ehrlich: Im ersten Moment, als das BAG die Weisung herausgab, dass man unbedingt Abstand zu anderen halten, sich nicht die Hände schütteln und schon gar nicht küssen soll, war ich fast ein bisschen erleichtert. Endlich bemühen sich auch die anderen, mir nicht zu nahe zu kommen. Und seit dem Lockdown gibt’s kein Gedränge, keine Menschenmassen mehr – das passt mir.



Verstehen Sie mich nicht falsch: Es ist nicht so, dass ich mich über diesen Ausnahmezustand freue und wünschte, dass das ewig so bleibt. Ganz sicher nicht. Es gibt schliesslich einen ernstzunehmenden Grund für diese ungewohnte Situation.

Und dass das Leben einfach still steht, kann ja niemand ernsthaft wollen. Aber vielleicht bleibt doch ein bisschen was zurück, wenn sich alles wieder normalisiert hat. Vielleicht verzichtet man dann auf die Begrüssungs- und Abschiedsküsserei, selbst wenn man gar nicht besonders gut befreundet ist. Und auch das Händeschütteln könnte man doch weglassen.

Es reicht, wenn man sich freundlich zulächelt, oder?»

*Name von der Redaktion geändert

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