Interview Udo Rauchfleisch: «Menschen mit extremen Ängsten sollten Hilfe suchen»

Von Marianne Siegenthaler

9.3.2020

Hypochondrie ist eine psychische Störung, bei der Betroffene die unbegründete Angst empfinden, schwer krank zu sein.  (Symbolbild)
Hypochondrie ist eine psychische Störung, bei der Betroffene die unbegründete Angst empfinden, schwer krank zu sein. (Symbolbild)
Bild: iStock

Das Coronavirus ist allgegenwärtig und macht vielen Menschen Sorgen. Ganz besonders leiden Hypochonder, also Personen, die eine übersteigerte Angst vor Krankheiten haben. Ein Experte weiss Rat.

Hypochondrie ist die ausgeprägte Angst, schwer erkrankt zu sein. Bereits minimale Veränderungen werden als krankhaft eingeschätzt – in den allermeisten Fällen sind es jedoch Fehlinterpretationen. Auch wenn sich eine Erkrankung medizinisch nicht belegen lässt, bleiben Hypochonder überzeugt von ihren selbstdiagnostizierten Symptomen.

Im Alltagssprachgebrauch hat der Begriff einen abfälligen Charakter im Sinne einer «eingebildeten Krankheit», Ausdruck einer übertriebenen Selbstbeobachtung. Im medizinischen Bereich ist es ein klar umschriebenes Krankheitsbild, bei dem sich eine Person beharrlich mit der Möglichkeit beschäftigt, eine schwere, fortschreitende Krankheit zu haben – und dies, obwohl objektiv nichts dafür spricht.

Für «Bluewin» beantwortet Dr. Udo Rauchfleisch, emer. Prof. für Klinische Psychologie, Universität Basel, und Psychotherapeut in privater Praxis in Basel, die wichtigsten Fragen zum Thema.

Herr Rauchfleisch, wie viel Angst vor Krankheiten ist noch normal?

Ob ein Gefühl ‹normal› ist, lässt sich in allgemeiner Form schwer entscheiden. Es gibt grosse individuelle Unterschiede, die alle noch im Rahmen der Norm liegen. Was Angst betrifft, so ist sie bis zu einem gewissen Mass nötig, um im Alltag nicht in Situationen zu geraten, die uns gefährlich werden könnten.

So ist zum Beispiel Vorsicht im Strassenverkehr geboten. Oder aktuell im Hinblick auf das Coronavirus sind gewisse Hygienevorschriften zu beachten. Das Mass der Normalität wird überschritten, wenn die Angst das gesamte Denken, Fühlen und Handeln einer Person permanent in Anspruch nimmt und der äusseren Situation nicht entspricht.

Udo Rauchfleisch: «Das Mass der Normalität wird überschritten, wenn die Angst das gesamte Denken, Fühlen und Handeln einer Person permanent in Anspruch nimmt und der äusseren Situation nicht entspricht.»
Udo Rauchfleisch: «Das Mass der Normalität wird überschritten, wenn die Angst das gesamte Denken, Fühlen und Handeln einer Person permanent in Anspruch nimmt und der äusseren Situation nicht entspricht.»

Wie kommt es zu dieser übermässigen Angst?

Übermässige Angst kann in ganz verschiedenen Kontexten und auf ganz verschiedene Art entstehen. Sie kann im Rahmen einer tatsächlich bedrohlichen, traumatischen Situation beginnen, dann aber nicht wieder abklingen, sondern bestehen bleiben und im Verlauf der Zeit sogar noch stärker werden. Sie kann auch bei Menschen auftreten, die generell ängstlich sind und deren Angst sich dann an eine bestimmte Situation bindet. Übermässige Ängste finden wir auch bei Menschen mit depressiven und schweren körperlichen Erkrankungen.

Wie äussert sich diese übermässige Angst konkret?

Es ist ein dauerndes Kreisen der Gedanken um die vermutete schwere körperliche Krankheit. Jede noch so schwache körperliche Empfindung wird als Beweis für die Krankheit interpretiert. Die Betreffenden sind in einer permanenten Panikstimmung, und ihre Aufmerksamkeit kann sich in einem so starken Masse auf die ‹Symptome› richten, dass alle anderen Dinge im Alltag an Bedeutung verlieren.



Gibt es Menschen, die eher davon betroffen sind?

Zur Entwicklung übermässiger Angst neigen vor allem selbstunsichere Menschen, denen aufgrund einer depressiv getönten negativen Sicht die Welt feindlich erscheint.

Die Angst vor dem Coronavirus scheint allgegenwärtig. Für Hypochonder muss das doch die Hölle sein.

Im Hinblick auf den Coronavirus können wir auch bei nicht hypochondrischen Menschen eine zum Teil extreme Angst beobachten, die das der Situation angemessenen Mass überschreitet. Dies zeigt, dass die Grenzen zwischen der ‹Krankheit Hypochondrie› und übersteigerten Ängsten bei nicht im klinischen Sinn Kranken fliessend sind.

Für Menschen mit ‹hypochondrischen Störungen›, wie die ICD, also die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandten Gesundheitsprobleme, sie nennt, ist eine Situation, wie wir sie jetzt mit dem Coronavirus erleben, tatsächlich die Hölle. Sie leiden extrem unter ihren Ängsten und werden durch die Nachrichten aus den Medien darin noch bestärkt.

Können Betroffene selber etwas dagegen tun?

Für Menschen, die nicht unter einer hypochondrischen Störung im klinischen Sinne leiden, ist es eine Hilfe gegen die Angst, genau die Realität anzuschauen: Was ist wirklich gefährlich? Was kann ich gegen eine Ansteckung tun? Wie kann ich mich sonst schützen? Warum reagiere ich so panisch?

Menschen mit hypochondrischen Störungen helfen rationale Argumente wenig. Sie sind von der Gefahr so überzeugt, dass selbst wiederholte Untersuchungen mit negativen Resultaten sie letztlich nicht beruhigen. Dies zeigt, dass die eigentlichen Ursachen der Angst nicht in den körperlich wahrgenommenen Empfindungen, sondern im psychischen Bereich liegen. Dabei besteht allerdings eine Gefahr.

Welche?

Weil Menschen mit hypochondrischen Störungen oft viele verschiedene Abklärungen durchführen lassen und aus Unzufriedenheit häufig die Ärztinnen und Ärzte wechseln, werden sie mitunter mit ihren Klagen nicht ernst genommen. Dies ist aus zwei Gründen verhängnisvoll: Zum einen fühlen sie sich dadurch als ‹Simulanten› abgestempelt und empfinden das – zurecht! – als Entwertung und Verletzung. Zum anderen besteht durch das Nicht-ernst-Nehmen aber auch die Gefahr, tatsächlich bestehende Erkrankungen zu übersehen.



Wann sollte ein Betroffener Hilfe suchen?

Menschen mit extremen Ängsten, die ihr Leben negativ beeinflussen und sie selbst und ihre Angehörigen quälen, sollten in jedem Fall psychotherapeutische Hilfe suchen. Dies schliesst ein vertretbares Mass an körperlichen Abklärungen nicht aus, sondern ist für das therapeutische Vorgehen sogar wichtig. In der Psychotherapie geht es dann aber darum, die tieferen Ursachen zu ergründen und zu bearbeiten.

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