Protokoll einer Hypochonderin «Die sind todkrank oder schon gestorben – oder?»

Von Marianne Siegenthaler

4.3.2020

Eveline M.*, Hypochonderin: «Gerade jetzt, während die Coronavirus-Angst auf einem Höhepunkt ist, merke ich, wie schwer es mir fällt, nicht in Panik zu verfallen.» (Symbolbild)
Eveline M.*, Hypochonderin: «Gerade jetzt, während die Coronavirus-Angst auf einem Höhepunkt ist, merke ich, wie schwer es mir fällt, nicht in Panik zu verfallen.» (Symbolbild)
Bild: Getty Images

Der Coronavirus beherrscht die Medien und unseren Alltag. Eine ganz schreckliche Situation für jemanden, der fest daran glaubt, krank zu sein, obwohl sein Körper gesund ist. Protokoll einer Hypochonderin.

Eveline M.* ist 42 Jahre alt, wohnt in der Agglomeration von Zürich und arbeitet im Marketingbereich. Sie bezeichnet sich selber als Hypochonderin, und zurzeit leidet sie ganz besonders darunter. «Bluewin» hat sie ihre Geschichte erzählt:

«Ich war schon als Teenagerin eine Hypochonderin. Das ist erstaunlich, denn ich war als Kind nie krank und hatte ein immenses Vertrauen in meinen Körper und mein Immunsystem. Und doch bilde ich mir, seit ich etwa 16 war, regelmässig Krankheiten oder zumindest Symptome ein.

Kopfschmerzen? Mein Hypochonder-Ich googelt bereits die Überlebenschancen bei einem Hirntumor, während die kleine Stimme der Vernunft verzweifelt versucht, mich zur Besinnung zu bringen: ‹Ts, Hirntumor! Du hast zu wenig geschlafen, zu wenig Wasser getrunken, viel zu viel geraucht und die ganze Woche nur Fast Food gegessen! DESWEGEN hast du Kopfschmerzen. Entspann dich mal.›

Und auch wenn ich eigentlich weiss, dass ich vermutlich nicht so krank bin, wie ich befürchte: Ich kann diese Panik nicht kontrollieren.

Die Angst, wirklich schwer krank zu sein, lähmt mich im schlimmsten Fall für mehrere Stunden. Ich habe Schweissausbrüche, Herzrasen und das dringende Bedürfnis, mich sofort untersuchen zu lassen, um meine Vermutung zu widerlegen. Diese Ungewissheit, die ich dann empfinde, fühlt sich schlimmer an, als der Gedanke an die eigentliche Krankheit. Das Nicht-Wissen, ob etwas Tödliches in mir schlummert – oder ohne mein Wissen bereits aktiv ist –, macht mich in solchen Momenten schier fertig.

Gelernt, auf Dr. Google zu verzichten

Inzwischen habe ich wenigstens gelernt, auf Diagnosen und Ratschläge von Dr. Google zu verzichten – aber auch erst, nachdem ich mal ausserordentlich viel Durst hatte und herausfinden wollte, warum. Google teilte mir mit, dass das ja womöglich Diabetes sein könnte. Herzlichen Dank.

Fast eingewachsene Zehennägel selbst behandeln? Bloss nicht, das könnte laut diversen Websites Komplikationen geben und bis zur Amputation des ganzen Fusses führen.



Und es ist nicht nur Dr. Google, der Hypochondern wie mir das Leben schwer macht: Der Instagram-Algorithmus wollte mir mal eine App aufschwatzen, die Krankheiten diagnostizieren sollte. Da kann man dann eingeben, welche Symptome man hat (‹Schnupfen, Kopfschmerzen›) und die App gibt eine ‹beruhigende› Diagnose: ‹7 von 10 Personen mit deinen Symptomen haben eine Erkältung oder Grippe›.

Das Problem dabei: Das einzige, was in diesem Moment durch mein Hypochonder-Hirn schiesst, ist: ‹Und die anderen drei? Die sind todkrank oder schon gestorben, oder?›

Ich weiss, dass ich mir das nur einbilde

Seit ich auf Selbstdiagnosen mehrheitlich verzichte, bilde ich mir grundsätzlich ein, mein Hypochondertum ganz gut im Griff zu haben. Ich kann mich zwischendurch auch gut entspannen. Beim Schwimmen beispielsweise. Aber dafür ist der Zürichsee jetzt noch zu kalt. Und ins Hallenbad gehe ich nicht. Da hat es mir zu viele Bakterien, davon könnte ich krank werden. Dabei weiss ich ja, dass ich mir das nur einbilde.

Mir ist sehr wohl bewusst, dass diese Ängste völlig übertrieben sind. Aber wie bei vielen psychischen Störungen nützt die Erkenntnis alleine noch nicht viel. Die Stimme, die fragt ‹Und was, wenn du doch todkrank bist?› oder ‹Was, wenn du stirbst, weil du nichts dagegen unternommen hast?› ist immer da. Und gerade jetzt, während die Coronavirus-Angst auf einem Höhepunkt ist, merke ich, wie schwer es mir fällt, nicht in Panik zu verfallen.

Normalerweise würde ich nun versuchen, den Corona-News einfach aus dem Weg zu gehen. Wenn ich nicht weiss, dass Italien 18 Virustote innert 24 Stunden gemeldet hat, dann kann mich das auch nicht verunsichern.

Das Thema ist aber dermassen omnipräsent, ich komme einfach nicht darum herum, egal womit ich mich beschäftige. Klatsch und Tratsch? ‹Das sagen Prominente zu Corona›. Wirtschaft? ‹So wirkt sich Corona auf die Aktienkurse aus›. Sport? ‹Fussball- und Eishockeyspiele wegen Corona hinter verschlossenen Türen›.



Meine einzige Hoffnung ist, dass das Thema bald von einem anderen abgelöst wird. Ich glaube zwar nicht, dass das Coronavirus von heute auf morgen verschwinden wird – aber ich bin mir sicher, dass die Berichterstattung über diesen nicht so wahnsinnig gefährlichen Virus die Menschen hierzulande irgendwann langweilt und ein anderes Thema wichtiger ist.

Dann können sich meine Ängste wieder darauf beschränken, ob die Bauchschmerzen der Beginn eines Bilddarmdurchbruchs sind. Und ja: Vielleicht muss ich dieses Problem doch mal mit einem Psychiater angehen.»

*Name der Redaktion bekannt.

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