Interview II Gion Mathias Cavelty: Mit Piero Esteriore auf eine Wurst

Von Carlotta Henggeler

6.6.2020

TV-Experte Gion Cavelty mag Trashformate wie «Bachelorette»: «Das Format ist Existenzphilosophie am lebenden Objekt.»
TV-Experte Gion Cavelty mag Trashformate wie «Bachelorette»: «Das Format ist Existenzphilosophie am lebenden Objekt.»
Pascal Mora

«Innozenz. Eine Legende», so heisst Mathias Gion Caveltys neues Buch. Der «Bluewin»-TV-Experte über Bestseller – und warum er heute mit Piero Esteriore ein Bier trinken würde. 

Er liebt okkulte, schwarzmagische Rituale, Trashformate wie «Bachelorette» oder «Love Island» und seziert als «Bluewin»-TV-Experte die Fernsehlandschaft.

Neun Bücher haben Sie schon geschrieben. Sie können das Schreiben nicht lassen. Wann kommt Ihr Bestseller?

Es gibt zwei Kategorien von Schriftstellern. Ich gehöre zu jenen, die ein Buch schreiben müssen, weil es einfach aus ihnen heraus muss. Daneben gibt es die kalkulierenden Bestseller-Autoren. Man weiss ja, 75 Prozent aller Leser, die Bücher kaufen sind Frauen, davon sind nochmals 50 Prozent über 60 Jahre alt, sind also im Schweizer-Fernsehen-Durchschnittsalter. Das meine ich nicht abwertend.

Welche Komponenten würden Sie also in einen aktuellen Buch-Verkaufshit packen?

Dann muss schon ein Arzt vorkommen, aktuell upgedatet ein Virologe. Es gibt ja schon die ersten Parodien auf den Virologen, dem die Frauen vertrauen – eine Anspielung auf Dr. Drosten. Da bin ich überzeugt, wenn wir zum TV-Thema überschwappen, es wird eine Flut an Serien mit dem jugendlichen Virologen aus der Berliner Charité geben, dem die Frauen reihenweise vor die Füsse sinken.

Themenwechsel. Es brennt mir schon lange auf der Zunge. Ihre Texte sind provokativ. Schon mal jemanden brüskiert und es bereut, zu weit gegangen zu sein?

Moment, ich muss überlegen.

Ich spiele auf die Geschichte mit Piero Esteriore an. Sie schrieben im Artikel ‹Nur das Rindsfilet singt nicht› über seinen Geburtstag, das Fest habe sich wie ein Mafia-Begräbnis angefühlt. Das erzürnte Piero Esteriore dermassen, dass er 2007 mit dem Auto ins Ringier-Pressehaus donnerte. Frieden geschlossen, könnten Sie heute mit ihm ein Bier trinken? 

Ja, das haben wir inzwischen auch gemacht. Es ist eine lustige Geschichte.

Erzählen Sie!

Ein Jahr nach Erscheinen des Artikels, also 2008 gab es im Hotel Dolder in Zürich eine Veranstaltung mit riesiger Spielzeug-Autobahn. Der ganze Saal war mit der Bahn voll. Da mussten immer zwei Leute in drei Runden gegeneinander antreten, ohne vorher zu üben. Ich durfte natürlich gegen Piero antreten. Es ging bei seinem Ringier-Auftritt ja auch um ein Auto, nämlich um den Mercedes seiner Mutter. Beide haben die Fernsteuerung in die Hand genommen und ich habe die drei Runden in einem solchen Rekordtempo gefahren, das war ein triumphaler Sieg gegen Piero.

Okay. Bravo.

Ja, aber was man dabei wissen muss: Ich bin der ungeschickteste Mensch auf Erden, motorisch total unbrauchbar, dass mir das nie gelungen wäre. Ich bin vor dem Rennen hinter die Kulisse zum Techniker und habe ihn mit 50 Franken bestochen. Er hat die echte Fernsteuerung bedient – und ich habe vorne nur so getan, als würde ich fahren und so kam’s zum Triumph. Moment, das habe ich noch nie jemandem erzählt. Piero hat es total angegurkt. Ich habe ihn väterlich in die Arme genommen und ihm gesagt, dass es nicht so schlimm sei. Es gibt sogar noch ein Foto davon.

Der oben erwähnte ‹Blick›-Text ist immer noch online.

Das war auch mein erster Artikel für die Zeitung. Ich wurde als Volksmusik-, Schlager-, und Brauchtumsexperte eingestellt. Das sind genau die drei Gebiete, für die ich 130 Prozent nicht geeignet bin. Gleich am ersten Tag wurde ich zu Pieros Geburtstagsfeier geschickt. Die war bei einem Nobelitaliener in Zürich. All seine Leute waren komplett schwarz angezogen und ihr Getue war wie man es aus einem Mafiafilm kennt. Wie in ‹Der Pate›, da küsst man sich auch dauernd die Hand. Ich habe erst später herausgefunden, warum sie so salbungsvoll drauf waren. Offenbar war Pieros Grossvater eine Woche zuvor gestorben. Das tut mir leid, das wusste ich nicht. Ich würde Piero gerne mal zum schärften Schnitzel der Welt einladen, das gibt es im ‹Hirschen› in Schwanendingen.



Kürzlich erschien Ihr Radio-‹Tatort›, den Sie für SRF als Podcast geschrieben haben. 2021 erscheint der dritte Teil. Woran arbeiten Sie sonst noch?

Ich schreibe schon an meinem nächsten Buch und suche fleissig nach TV-Themen für ‹Bluewin›. Der Mai war leider so-la-la ...

Warum interessieren Sie sich so brennend fürs Fernsehen?

Das Fernsehen ist mein Fenster in Welten, zu denen ich sonst keinen Zutritt hätte. Welten mit ganz eigenen Regeln und Codes. Zum Beispiel Mafia-Dokus oder Filme über Geheimgesellschaften oder auch das ‹Dschungelcamp›. Man kann von zu Hause aus in die Gehirne fremder Menschen schauen und sich zum Glück auch wieder rauszappen. Mich interessiert: Wie funktionieren diese Welten, in die ich von Schwamendingen aus sonst nie reinkommen würde.

«Es wird eine Flut an Serien mit dem charmanten Virologen aus der Berliner Charité geben»

Sie stehen auch dazu, gescriptetete Formate wie ‹Bauer sucht Frau› oder ‹Bachelorette› zu lieben.

Wer einem den Vorwurf macht, Sendungen wie die ‹Bachelorette› zu schauen, hat Angst davor, sich selbst zu blamieren. ‹Bachelorette› ist Existenzphilosophie am lebenden Objekt. Gerade, weil so viel nur gespielt ist. Da kann man sich dann wunderbar Gedanken zum freien Willen des Menschen machen, wenn man will. Oder sich auch einfach nur amüsieren.

Ich bin im ‹Bachelorette›-Fanclub! Andere Frage: Als Selbstständiger ist die Corona-Zeit eher schwierig für Sie, denke ich.

Nun, von meinen Büchern konnte ich noch nie leben. Das können in der Schweiz nicht mehr als zehn Leute. Martin Suter, Alex Capus … dann muss ich schon studieren. Ich schiele nicht aufs Publikum. Bin gespannt, wie viele Verlage es nach Corona noch gibt. Mein Verleger sagt, die Branche sei komplett zusammengebrochen.

Schade. Sie scheinen Corona relaxt zu nehmen.

Ja, ausser dem Homeschooling mit meiner Tochter. Sei geht in die fünfte Klasse und muss jetzt im Rechnen diese stupiden Sätzchenaufgaben lösen, die ich schon immer gehasst habe. Erinnern Sie sich?

Ja, leider. Bin da auch traumatisiert.

Da fährt ein Zug in Lausanne mit 50 km/h ab, ein anderer mit 60 km/h in Basel. Wann und wo treffen sich die Züge und wie alt ist die Grossmutter des Lokführers des Zuges, der um 12:14 Uhr in St. Gallen ankommt? Dann schon tausend Mal lieber die ‹Bachelorette›!

Mehr über «Innozenz. Eine Legende» und Gion Mathias Cavelty gibt es beim SRF-Podcast «52 beste Bücher». Buchhinweis:
Gion Mathias Cavelty: «Innozenz - Eine Legende». lectorbooks, 2020.

The Hoff: Fernseh-Held und Sänger.

Zurück zur Startseite