Sie ist zurück: Adele, eine der erfolgreichsten Musikerinnen der Popgeschichte. Wie gelungen ist ihr neues Album? Eine Kritik, Stück für Stück.
Von Hanspeter «Düsi» Künzler, London
19.11.2021, 11:11
20.11.2021, 11:16
Hanspeter «Düsi» Kuenzler, London
Absence makes the heart grow fonder, heisst es auf Englisch. Zu Deutsch: je länger einem jemand fehlt, desto mehr sehnt man sich nach dieser Person. So geschehen mit Adele.
Sechs Jahre sind verstrichen seit ihrem letzten Album. Die Erwartungen fürs Comeback-Album bewegten sich in der Stratosphäre. Seit Mitternacht können wir es hören.
Und jetzt?
Eine klassische rags-to-riches-Story: Das einfache Mädchen aus dem schäbigen Londoner Quartier Tottenham mausert sich zum globalen Superstar. Von ihren ersten drei Alben gingen 60 Millionen Exemplare über den Ladentisch.
Durch den Ritterschlag eines Oprah-Winfrey-Interviews ein paar Tage vor dem Erscheinen ihres Comeback-Album «30» ist Adele vom gewöhnlichen Superstar zum Superstar unter Superstars befördert worden. Die Kampagne zur Veröffentlichung von «30» ist ein Meisterwerk der Werbekunst.
Sie begann Anfang Oktober mit mysteriösen Projektionen der Zahl «30» auf den Eiffelturm, das Römer Kolosseum und das Empire State Building. Pink Floyd galten als kühn, als sie ein Album veröffentlichten, auf dessen Cover ihr Name nicht auftauchte.
Mit dem überragenden Einfall, ihre Alben nach den Altersklippen in ihrem Leben zu benennen – «19», «21», «25» und jetzt eben «30» – hat es Adele noch überzeugender als CR7 geschafft, Zahlen für ihre Zwecke einzuspannen.
Ihre Oberlippe zitterte traurig, wenn sie sang
Ich erinnere mich genau, wann und wo ich zum ersten Mal von Adele hörte. Es war nach einem Interview mit einem Künstler, den ich längst vergessen habe, im Büro einer kleinen, unabhängigen Plattenfirma in London. Man habe gerade diesen Teenager unter Vertrag genommen, erklärte der Presse-Mann und schaltete die Video-Maschine an.
Zu sehen war ein ganz und gar nicht auf Popstar getrimmtes Mädchen, das in einem Pub auf einem Schemel sass und zur Akustikgitarre selbstgeschriebene Lieder kredenzte, die keineswegs aussergewöhnlich waren. Aussergewöhnlich war nur die Sängerin. Die Oberlippe von Adele zitterte traurig, wenn sie sang, und gleichzeitig war die Unterlippe zum Kuss geschürzt (das ist natürlich als Metapher gemeint).
Inzwischen lebt die einstmals so bleiche Engländerin in Los Angeles und hat sich einen vitamingetränkten Sonnen-Teint angeeignet. Die Stimme mag einen Hauch Patina angesetzt haben, aber im Herzen ist sie dieselbe geblieben. Melancholisch, optimistisch, mütterlich und sexy zugleich, das war Adele schon auf dem Album «19», und sie ist es auf «30» immer noch.
Emotionale Weltreise
Dabei liegt zwischen den beiden Werken eine emotionelle Weltreise. Damals sang sie von gescheiterter Teenager-Liebe, heute dreht sich alles um die gescheiterte erste Ehe und die alles überragende Liebe zum Kind. Frühere Liebes-Apokalypsen verhalfen Adele zu ihren ersten grossen Hits.
Auf «30» wagt sie eine gnadenlose Selbst-Analyse von ihrem Umgang mit der Ehe und sich selber. Vom Thema her also nichts Neues: alles dreht sich um die Emotionen – die Emotionen von Adele. «Niemand kann meine Songs so singen wie ich,» erklärt sie im aktuellen «Zeit Magazin». «Meine Gefühle sind der Grund, warum ich so erfolgreich bin.»
Die Sängerin gesteht auch, dass «mehrere Therapien» sie zu einem Punkt gebracht hätten, wo sie gewillt sei, offener als je zuvor über diese Gefühle zu singen.
Und wie klingt das alles? Eine Rezension, Song für Song:
1) «Strangers by Nature»: Es beginnt superdramatisch – aber auch ein bisschen adoleszent. «I’ll be taking flowers to the cemetery of my heart», singt Adele. Es gibt keinen Grund, an der Aufrichtigkeit der Gefühle zu zweifeln. Ausser den etwas gar dick aufgetragenen Streichern, die plötzlich zu winseln anfangen. Das Arrangement erinnert entfernt an die 50er-Jahre, das digitale Glockenspiel ist wohl für Weihnachtsshows am amerikanischen TV gedacht.
2) «Easy on Me»: Klassische Adele-Melodie, die Stimme bricht an den genau richtigen – sprich: schicksalsschwangeren – Stellen. Superbe Gesangstechnik, ganz klar. Aber die perfekten Stimmbrüche wirken gespielt. Trotzdem: ein Instant-Evergreen.
3) «My Little Love»: Ein grauenvoller Ausrutscher. Adele singt sehr schön – und versucht, ihrem Söhnchen schonend die Tatsache zu erklären, dass sie sich von seinem Vater trennen wolle. Sie tut dies im Duett: offenbar aus therapeutischen Gründen hat sie die Gespräche aufgenommen, die sie zu diesem Thema mit dem Buben führte. Ausschnitte davon werden im Lied eingestreut. Die Verwendung von heimlichen Aufnahmen der spontanen Reaktionen des Kindes (dazu ihren eigenen Schluchzern) grenzen an Missbrauch. Auf rein musikalischer Ebene – garstig!
4) «Cry Your Heart Out»: Man würde es nicht für möglich halten, dass ein Produzent – Greg Kurstin – auf die Idee käme, einer Adele Autotune zu verpassen. Aber es ist eine gute Idee. Der Sound ist eine elektronische Mischung aus Sixties-Motown und britischem Eighties-Lovers’ Rock-Reggae. Originell und eingängig.
5) «OMG»: Der grosse Knüller des Albums. Raffinierte Melodie, jungmädchenhaft gesungen, spritziges Tempo, lockerer Rhythmus. Wow!
6) «Can I Get It»: Lustiger, beschwingter Popsong. Man fühlt sich an die mittlere Schaffensphase von Madonna erinnert.
7) «I Drink Wine»: Schwerfällige Soul/Country-Ballade. «Stop trying to be somebody else», rät Adele.
8) «All Night Parking»: Seit dem einsamen Höhepunkt von «OMG» zeigt der Spannungsbarometer merklich Richtung Nieselregen. Das nervige Cocktail-Bar-Klimperklavier, das die pseudo-jazzigen Beat-Synkopen begleitet, ist das Einzige, was im Ohr hängen bleibt. Oh, nein: Das Geklimper stammt offenbar vom grossen Errol Garner.
9) «Woman Like Me»: Die Notizen werden immer kürzer. Eine Ballade halt. «Give me a reason to stay», singt Adele. Hmmm…
«Danke, liebe Adele, bist du zurück» – «Ich habe geheult»
Fast auf den Tag genau sechs Jahre lang haben die Fans auf das neue Album «30» von der britischen Sängerin gewartet. Aber jetzt ist Adele endlich wieder da. Hat sich das Warten gelohnt? Top oder Flop?
19.11.2021
10) «Hold On»: Eine weitere Ballade mit fulminantem Pathos. Adele zieht alle Register. Wozu? Die Melodie besteht aus lauter Klischees.
11) «To Be Loved»: Es beginnt mit einem Klavier wie «Riders on the Storm» von den Doors. Danach begnügt sich das Piano mit banalen Akzenten, derweil die Sängerin ausführlich Selbstanalyse betreibt. 6 Minuten und 44 Sekunden lang.
12) «Love is a Game»: Wieder eine Art Motown-Tribut, anfangs mit feiner Wurlitzer-Orgel-Begleitung, später kommen Philly-Sound-Streicher, Die Chorgesänge – «satisfied, satisfied», «change of mind, change of mind» – legen (hoffentlich) einen Sinn für Ironie an den Tag. Nach den üblen Balladen eine echte Erleichterung – aber auch nicht gerade erhebend.
Fazit: Nach einem ermunternden Start – wir ignorieren «My Little Love» – versinkt «30» immer mehr im Sumpf von inspirationslosen Melodien, denen nur Adeles traurig zitternde Ober- und ihre zum Kuss geschürzte Unterlippe einen gewissen Charme abzugewinnen vermögen. Neue Verkaufs- und Streaming-Rekorde sind ihr dennoch sicher.
PS: Auf die Texte will ich hier nicht näher eingehen. Ohne Zweifel sind sie Adele wichtig. Solche Seelenoffenbarung ist mutig – damit wollen wir es bewenden lassen.
Zum Autor: Der Zürcher Journalist Hanspeter «Düsi» Kuenzler lebt seit bald 40 Jahren in London. Er ist Musik-, Kunst- und Fussball-Spezialist und schreibt für verschiedene Schweizer Publikationen wie die NZZ. Regelmässig ist er zudem Gast in der SRF3-Sendung «Sounds».