Kolumne am Mittag John Lennon – seine Nacktheit war Botschaft, nicht Publicity-Gag

Von Hanspeter «Düsi» Künzler

9.10.2020

John Lennon war kein einfacher Mensch. Aber er war auch nicht in einer einfachen Welt aufgewachsen.
John Lennon war kein einfacher Mensch. Aber er war auch nicht in einer einfachen Welt aufgewachsen.
Bild: Keystone

Am 9. Oktober wäre John Lennon 80 Jahre alt geworden. Mit seiner Ermordung am 8. Dezember 1980 verlor die Welt einen furiosen Idealisten. Eine Würdigung von Musikjournalist Hanspeter «Düsi» Künzler.

Was wäre aus ihm geworden, wenn er nicht so jäh aus dem Leben gerissen worden wäre? Hätte er alle paar Jahre seine nun wirklich letzte Welt-Tournee unternommen und zur Zugabe am weissen Konzertflügel «Imagine» gespielt?

Man kann es sich schwer vorstellen.

Eher hätte er mit David Bowie gewetteifert und hätte eine lange Reihe von nicht immer überzeugenden, immer aber interessanten Experimenten serviert.

Wäre er an einer Klima-Demo verhaftet worden? Ganz bestimmt. #MeToo? Hätte sich seiner Unterstützung sicher sein können. #BlackLivesMatter? Auf jeden Fall. Was auch immer passiert wäre: Die Welt hätte John Lennon zugehört.

John Lennon war kein einfacher Mensch. Aber er war auch nicht in einer einfachen Welt aufgewachsen. Die BBC zeigte kürzlich Aufnahmen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, wo die Kamera ziellos durch das zerbombte Liverpool schweifte. Die desolate Stimmung und die bodenlose Armut waren erschütternd. Es ist ein Wunder, dass auf so kargem Boden eine Muse wie die der Beatles aufblühte.

Es brauchte ein bisschen Arroganz

Gleichzeitig ist es kein Wunder: Der brutale Alltag duldete keine Ausflüchte. Es brauchte Mut und Durchhaltewillen, den duldenden, konservativen und gewalttätigen Zeitgeist der 1950er-Jahre zu konfrontieren, um die Möglichkeit von einer Art Selbstverwirklichung zu schaffen. Unerwünschte Zurechtweisungen vonseiten seiner Tante Mimi (nach der Trennung seiner Eltern kümmerte sie sich um ihn) konterte er mit dem Spruch, sie werde das schon noch bereuen, wenn er einmal berühmt sei.

Eben: Es brauchte auch einen Hauch Arroganz, wenn man von einer schöneren Welt träumen wollte. Auf diesem Nährboden mauserten sich die Beatles nicht nur zu pionierhaften Künstlern, sondern auch zu pionierhaften Popstars. Noch in den ersten Jahren der «Beatles-Mania» waren die vier Pilzköpfe reine Entertainer.

Ihre Lieder handelten von Liebe und Liebeskummer, sie selber waren witzige aber eher plakative Comix-Figuren. Das Bild änderte sich mit «Nowhere Man», zu finden auf dem rechtzeitig auf Weihnachten 1965 hin veröffentlichten Album «Rubber Soul». Hier schrieb John Lennon seinen ersten Text, in dem er von Gefühlen – eigenen Gefühlen! – sprach, die sich nicht um die Liebe drehten.

Es brauchte bedingungslose Offenheit

Mit diesem Stück definierte er sich und die Beatles neu: Sie waren keine Posterfiguren mehr, sondern Menschen, die sich mit dem Befinden der Welt auseinandersetzten. Ohne bedingungslose Offenheit wäre ein solches Unterfangen von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen. Die manchmal schneidende, manchmal berührende Ehrlichkeit, mit der John Lennon fortan ans Werk ging, war so etwas wie eine öffentliche Selbstpsychotherapie.

Sie war nötig, sich nicht nur von den Zwängen des sozialen und politischen Establishments zu befreien, sondern auch von denen des Popstar-Daseins. «Imagine» ist einer der beliebtesten Popsongs aller Zeiten. Wie bei anderen Lennon-Songs wird oft bekrittelt, der Text sei naiv und banal.

Naiv, vielleicht. Aber in einer Welt voller Floskeln, Sloganen und doppelbödigen Halbwahrheiten ist er mit seiner fadengraden Ehrlichkeit und der totalen Absenz von Ironie ein genauso mutiges Statement wie das Cover von dem im November 1968 veröffentlichten Experimentalalbum «Two Virgins». Darauf zeigten sich John Lennon und Yoko Ono von vorn und hinten vollkommen nackt.

Die Nacktheit war Botschaft, nicht Publicity-Gag. Von ihr sollten wir heute genauso zehren wie an dem Tag, wo sie kreiert wurde.

Zum Autor: Der Zürcher Journalist Hanspeter «Düsi» Kuenzler lebt seit bald 40 Jahren in London. Er ist Musik-, Kunst- und Fussball-Spezialist und schreibt für verschiedene Schweizer Publikationen wie die NZZ. Regelmässig ist er zudem Gast in der SRF3-Sendung «Sounds».


Regelmässig gibt es werktags um 11:30 Uhr und manchmal auch erst um 12 Uhr bei «blue News» die Kolumne am Mittag – es dreht sich um bekannte Persönlichkeiten, mitunter auch um unbekannte – und manchmal wird sich auch ein Sternchen finden.

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