Fast 40 Jahre lang Pause – und jetzt ist es da, das neue Album «Voyage» der schwedischen Popband Abba. Eine Kritik wie eine Gefühlsachterbahn.
Von Bruno Bötschi
05.11.2021, 06:50
05.11.2021, 16:23
Bruno Bötschi
Zumindest musikalisch hat das laufende Jahr etwas zu bieten: Es erschienen bereits einige tolle Alben von herausragenden Musiker*innen. Und heute steht auch noch das vielleicht grösste Comeback der Musikgeschichte an – endlich:
Abba, die legendäre schwedische Popband, ist zurück
Ich bin ein 80er-Kind und war entsprechend nervös, als mir Anfang Woche die Plattenfirma den Link zum neuen Abba-Album «Voyage» mailte: «This stream is confidential and strictly embargoed until Friday, November 5th.» Grosse Geheimhaltung also.
Wir Abba-Fans wurden bereits Anfang September wieder angefixt durch die Stimmen von Agnetha Fältskog und Anni-Frid Lyngstad und die Musik von Björn Ulvaeus und Benny Andersson – mit den beiden Vorab-Singles «I Still Have Faith In You» und «Dont Shut Me Down».
Der Link der Plattenfirma war 24 Stunden gültig. Ich hatte also nur wenig Zeit, die neue Musik von Abba richtig zu geniessen. Mein Vorgehen: Jeden Song zweimal hören, einmal auf Kopfhörer, einmal über die Boxen, und danach sofort die Kritik aufschreiben.
1. «I Still Have Faith In You»
Wo Abba draufsteht, ist Abba drin. Mein erster Gedanke. Der Song, eine der beiden Vorab-Singles, hat mich Heulsuse zu Tränen gerührt. Anni-Frid ging es ebenso. «Die Melodie und der Text sind so eindringlich und schön», sagte die Abba-Sängerin in einem Interview. «Sie gehen direkt ins Herz und in die Seele, sie bringen Erinnerungen zurück.»
Es sind glückliche, aber auch traurige Erinnerungen und deshalb: der perfekte Titelsong für die aktuell im schottischen Glasgow stattfindende UNO-Klimakonferenz. «We do have it in us / New spirit has arrived / The joy and the sorrow / We have a story and it survived.» Oder Greta Thunberg?
2. «When You Danced With Me»
An Schottland erinnert auch der zweite Song auf dem neuen Album. Ein Folk-Stück. Momoll, was Ed Sheeran («Galway Girl») kann, können Abba schon lange. Dudelsack erklingt, dann geht die Reise mit Schwung nach Irland. Wer wird sich mehr freuen, die Riverdancer*innen in Irland oder die Schott*innen, die dem Highland Dancing frönen?
Möglicherweise lieben den Song die Hüpfer*innen beider Länder. Denn soviel mir bekannt ist, haben die beiden Showtänze viele Gemeinsamkeiten – ausser, dass bei den Schott*innen während des Tanzens auch die Arme nicht fehlen dürfen und Frau – genauso wie Mann – Rock trägt.
3. «Little Things»
Mit Klaviermusik geht’s weiter, gefolgt von Piccolo-Klängen und glockenhellen Stimmen – zuerst von Agnetha und Anni-Frid im Duett, später setzt ein Kinderchor ein. Das ist er jetzt also: der im Vorfeld angekündigte neue Weihnachtssong von Abba.
Ein Liedchen, liebe Eltern, das auch wunderbar als Einschlaf-Hilfe für Kinder funktioniert. George Michael, Gott hab ihn selig, muss jedoch nicht fürchten, dass sein Longseller «Last Christmas», das Weihnachtslied überhaupt, entthront wird.
4. «Don't Shut Me Down»
Dem netten Popsong fehlt das Tempo. Für ein Tänzchen im Altersheim reicht es jedoch längst. Aber Achtung, liebe Senior*innen, das Stück dauert fast vier Minuten, nicht dass euch gegen Ende die Puste ausgeht.
Die zweite Vorab-Single funktioniert auch als Hymne für Menschen, die gerade in komplizierten, weil querdenkenden Beziehungen stecken. Corona sei Dank, da gibt es wohl einige.
Mein Tipp: Hört den Song, gesungen von Agnetha, zusammen mit eurem (Noch-)Lieblingsmenschen an: «And now you see another me, I've been reloaded, yeah» (Und jetzt siehst du ein anderes mich, ich habe mich neu erfunden, yeah). Und alles wird gut. Hoffentlich.
5. «Just A Notion»
Eine typische, weil eingängige Abba-Melodie. Kommt nicht von ungefähr, es handelt sich um musikalisches Recycling: Das Lied wurde 1978 erstmals eingespielt, dann jedoch bei der Zusammenstellung des Albums «Super Trouper» verworfen.
Für mich tönt der Song zu sehr nach Eurovision-Song-Contest vergangener Tage. Das ist nicht weiter schlimm. Es gibt auf jedem Abba-Album ein, zwei, drei Songs, die mich mehrheitlich langweilen.
6. «I Can Be That Woman»
Die Klänge wieder ruhiger. Eine Liebesballade. Klaviermusik ertönt, dazu die eindringliche Stimme von Agnetha. Sie singt von einer Frau, die ihrem Mann sagt, dass er nicht der Mann war, der er hätte sein können. Sie habe jedoch das gleiche Problem. Aber jetzt könnte alles anders werden, die Zukunft wieder liebevoller. Sie singt «Sorry». Und weiter: «But I can be that woman now» (Aber ich kann jetzt diese Frau sein). Der Anfang zu etwas Neuem gar? So oder so: Kuschelmusik vom Feinsten.
7. «Keep An Eye On Dan»
Viel Synthesizer, gemixt mit Schlagzeug. Abba machen jetzt auch Elektrosound. Der nächste Abba-Welthit? Ja, das muss er sein. Auf alle Fälle der Song, der demnächst in den Discos und möglicherweise auch vielen Clubs dieser Welt rauf- und runtergespielt wird.
Je länger der Song spielt, desto wuchtiger und tanzbarer wird er (trotz traurigem Text). Zum Ende gibt es dann noch die Stimmen von Björn und Benny zu hören, bevor das Lied mit einer Reminiszenz an den Abba-Welthit «S.O.S» ausklingt. Ein Song, in dem es ebenfalls um die Frage geht, wo die glücklichen Tage geblieben sind.
8. «Bumble Bee»
Dann kann wieder geschwebt werden – zu Flötenmusik und der Stimme von Anni-Frid. Erinnerungen an den Abba-Hit «Fernando» flackern auf. Spätestens jetzt ist allen klar: Abba bleiben Abba.
Mir klingt dieser Hummel-Song zu esoterisch. Aber Uriella, die verstorbene Gründerin und Oberhaupt der neureligiösen Bewegung Fiat Lux, hätte viel Freude daran gehabt.
9. «No Doubt About It»
Dann nochmals folkige Tanzmusik – angetrieben von einem Banjo und den kraftvollen Stimmen von Agnetha und Anni-Frid. Nicht nachdenken, sondern einfach: tanzen, tanzen, tanzen. Reicht, oder?
10. «Ode To Freedom»
Das Ende naht und alles wird friedlich. Die beiden Abba-Frauen, begleitet von Geigenmusik, singen eine Ode an die Freiheit. Traurig, melancholisch, gefühlvoll. Freiheitslieder gibt es schon viele – genützt haben sie leider (zu) wenig. Ein bewegendes Lied zum Schluss. Achtung: nochmals erhöhte Tränen-Gefahr!
Handwerklich perfekt, aber ...
Bleibt die Frage: Knüpfen Agnetha Fältskog, Anni-Frid Lyngstad, Björn Ulvaeus und Benny Andersson mit ihren zehn neuen Songs auf «Voyage» an ihre glorreichen Zeiten an?
Ja.
Wo Abba draufsteht, ist auch weiterhin Abba drin. «Voyage» ist, wie alle seine Vorgänger auch, eine handwerklich perfekt gemachte Platte. Die Musik kristallklar, die Stimmen superclean. Zu sauber? Vielleicht.
Die zehn neuen Songs bieten eine hübsche Reise zurück in die Vergangenheit. Unterhaltsam durchaus, zuweilen aber etwas konservativ, weil mit dem Tempo der 70er- und 80er-Jahre vorgetragen.
Mir persönlich fehlt der ganz grosse musikalische Wurf. Nach den coolen Vorab-Singles «I Still Have Faith In You» und «Don't Shut Me Down» hoffte ich, da komme noch mehr. Die Mehrheit der Hardcore-Abba-Fans wird dies nicht weiter stören. «Voyage» wird in den Hitparaden weltweit auf Platz eins hochschiessen – zu lange war die Wartezeit darauf.
«Man kann nicht erklären, was Abba bedeutet», schrieb im Jahr 1999 eine Musikkritikerin über das schwedische Popquartett. «Die Lieder der Popgruppe bewegen, berühren und begeistern – längst nicht nur die Generation, die mit ihnen aufgewachsen ist.»
Stimmt. – Und ich freue mich darauf, die zehn neuen Abba-Songs ab heute nochmals ganz in Ruhe hören zu können.
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