Marco Kohler steht in Wengen vor seiner grössten Herausforderung in diesem Winter. Der 27-jährige Speedspezialist muss am Lauberhorn mit seiner unglücklichen Vergangenheit abschliessen.
Ein paar Schreie, dann eine fast gespenstische Stille. Es gibt Momente, da verschlägt es einem buchstäblich die Sprache. Im emotionsgeladenen Sport ist das besonders oft der Fall. Die Gefühlsskala reicht von unbeschreiblich schön bis tieftraurig. Am 11. Januar des vergangenen Jahres erlebten die Skifans in Wengen beides innert kurzer Zeit.
Soeben hatte Marco Odermatt mit einer sensationellen Fahrt seinen ersten Abfahrtssieg im Weltcup errungen – ausgerechnet am Lauberhorn. Doch als im Zielraum die Feierlichkeiten beginnen sollten, wurde die Freude bei ihm und dem Publikum arg getrübt: Marco Kohler, Odermatts guter Freund seit Kindheitstagen, stürzte bei seiner Fahrt und musste mit dem Helikopter ins Spital geflogen werden.
Dass sich Stürze und Verletzungen im Skisport nicht ganz vermeiden lassen, ist bekannt. Doch im Fall von Kohler hat der Unfall aufgrund der Vorgeschichte eine besonders tragische Note. Denn der Meiringer, der die Jungfrau-Region eigentlich tief ins Herz geschlossen hat, war hier schon einmal schwer gestürzt. So schwer, dass es ihm beinahe seine Karriere gekostet hätte.
Nicht aufgegeben
Es war im Jahr 2020, als Kohler als Vorfahrer am Lauberhorn stürzte und in seinem linken Knie fast alles kaputt ging, was kaputt gehen konnte. Kreuzband, Patellasehne und Meniskus waren gerissen, die Ärzte sagten ihm damals, es sei unwahrscheinlich, dass er je wieder Profirennen bestreiten werde.
Nach vielen Rückschlägen in der Reha arbeitete Kohler eine Weile in der Autowerkstatt seines Vaters, ehe es zur Begegnung mit Athletiktrainer Roland Fuchs kam. Auf dessen Programm sprach Kohler viel besser an, machte plötzlich grosse Fortschritte. So kehrte er nicht nur auf die Piste zurück, sondern feierte im Januar 2023 in Kitzbühel sogar sein Weltcup-Debüt. Und schon in der folgenden Saison überzeugte er mit den Rängen 8 in Gröden und 10 in Bormio.
Kohler war drauf und dran, sich in der Gruppe der besten Abfahrer zu etablieren. Und dann kam dieser Tag in Wengen, als er beim Sprung in den Haneggschuss in Rücklage geriet und stürzte. «Nicht schon wieder Marco», sagte nicht nur Kohlers Freund Odermatt, sondern auch viele andere Athleten, Trainer und Betreuende im Ziel.
Abgrenzung als Notwendigkeit
Es schien, als würde sich die Geschichte wiederholen. Doch diesmal ging es glimpflicher aus, es war «nur» ein Riss des vorderen Kreuzbandes. Bereits zwei Wochen nach dem Sturz in Wengen meldete sich Kohler via Online-Medienkonferenz und sprach von einem guten Heilungsverlauf und der Hoffnung, die nächste Saison bestreiten zu können.
Kohler kehrte nicht nur zurück, sondern belegte bei der ersten Abfahrt in Beaver Creek gleich den 15. Platz. Kurz vor Jahresende zeigte er auch auf der als besonders schwierig geltenden Piste von Bormio eine starke Leistung und fuhr als Neunter mitten in die Spitzengruppe. Notabene nur einen Tag nach dem verheerenden Sturz von Cyprien Sarrazin.
So leid es einem für seine Mitstreiter tue, als Fahrer müsse man sich von solchen Vorkommnissen konsequent distanzieren, erklärte Kohler hinterher. Vor allem, wenn man eine Vorgeschichte wie Kohler hat. «Ich habe keine Medien gelesen und auch meinen Teamkollegen gesagt, dass ich davon nichts wissen will. Ich musste mich allein auf mich konzentrieren.»
Mentale Vorbereitung
Die grösste Herausforderung für Kohler steht nun mit der erneuten Rückkehr nach Wengen an. Auch hier muss er sich ein wenig von seiner eigenen Geschichte abgrenzen, nachdem er sich zunächst intensiv mit den Sturzbildern auseinandergesetzt und im Sommer die Unfallstelle besucht hat. Doch nun gelte es, den Blick nur nach vorne zu richten.
Dabei geholfen habe ihm das Mentaltraining, sagt Kohler. Die gut zweiwöchentlichen Termine mit seiner Trainerin in Interlaken waren im Sommer ein zentraler Teil seines Aufbauprogramms. Das macht Kohler schon seit einigen Jahren, obwohl er sich zu Beginn seiner Karriere noch dagegen gewehrt hatte. «Ich dachte: Niemand kann mir sagen, was ich denken soll», sagt Kohler rückblickend. Es habe eine Weile gedauert, bis es bei ihm «Klick gemacht» habe und er sich öffnen konnte. «Heute bin ich enorm froh über die Stunden, die ich in mich und meine mentale Gesundheit investiert habe», sagt Kohler. Das erfolgreiche Comeback in diesem Winter sei zu einem sehr grossen Teil auf den Kopf zurückzuführen.
Natürlich kann auch das beste Mentaltraining nicht alle Erinnerungen auslöschen. Aber es kann helfen, mit der Vergangenheit abzuschliessen. Kohlers Fazit nach dem ersten Training am Dienstag lautete jedenfalls: «Die Strecke war toll, das Fahren war toll: Es war ein super Tag.» Ein guter Start für das grosse Ziel, mit Wengen Frieden zu schliessen.