Marco Odermatt schliesst mit dem WM-Titel in der Abfahrt die letzte bedeutsame Lücke in seinem Palmares. Der Nidwaldner ist in Courchevel eine Klasse für sich.
Marcel Hirscher hatte doch recht. Der Salzburger hatte Marco Odermatt schon vor vier Jahren als seinen legitimen Nachfolger ausgerufen. «Der Marco kann Gesamtweltcup-Sieger, Olympiasieger, Weltmeister werden – alles, was er möchte», sagte Hirscher damals. Es war eine Huldigung, die in der Familie Odermatt nicht allzu gut ankam. Zu jenem Zeitpunkt hatte der Filius einen 7. Rang als Bestergebnis im Weltcup ausgewiesen. Vorab Vater Walter Odermatt hatte für Hirschers Einschätzung kein Verständnis. «Das sind blöde Worte, wenn man weiss, wie schmal der Grat ist. Da kann soviel passieren. Da kann sehr schnell alles anders sein.»
«Anders» war es ein erstes Mal ein knappes Jahr später. Marco Odermatt hatte im Riesenslalom in Alta Badia ohne zu stürzen einen Aussenmeniskus-Riss im rechten Knie erlitten. Eine Operation wurde nötig, der Patient musste einen Monat pausieren. Das zweite Mal liegt erst drei Wochen zurück. Die Geschichte rund um das linke Knie nach der ersten Abfahrt in Kitzbühel ist wohlbekannt.
Die Meniskus-Quetschung sorgte nicht nur dafür, dass Odermatt kurz aussetzen musste. Der glimpflich abgelaufene Zwischenfall zog auch ein Umdenken mit sich, die Erkenntnis, dass auch dosiertes Risiko zum Erfolg führen kann. Odermatt hatte es sich mit seinen zwei Siegen in den Super-G in Cortina d'Ampezzo selber bewiesen, dass es auch mit dem einen oder anderen Prozent Zurückhaltung reicht.
Was am Fusse der Dolomiten gereicht hatte, war am Donnerstag im Super-G in Courchevel nicht genug. Nach Odermatts Einschätzung fehlte eben dieses eine Prozent, um der Favoritenrolle gerecht zu werden, ja um eine Medaille zu gewinnen. Die Enttäuschung war selbstredend gross, die Verarbeitung des 4. Ranges dauerte gleichwohl nicht lange. «Der Super-G war sehr schnell abgehakt.» Was Odermatt als Schlussfolgerung in die Abfahrt mitnahm, war – dieses Prozent.
Die vielleicht beste Fahrt überhaupt
«Ich wusste, dass ich alles riskieren und eine perfekte Fahrt zeigen musste, vor allem nach meinen Schwierigkeiten in den Trainings. Mir war klar, dass es sonst nicht für eine Medaille reichen würde.» Odermatt ging «all in», wie das heutzutage heisst – und wurde belohnt. Es war die perfekte Fahrt, die er an diesem Sonntag in den Schnee zauberte. Es war nicht nur die perfekte, es war auch die beste Fahrt, die Odermatt in dieser Disziplin je zeigte, womöglich die beste seiner bisherigen Karriere überhaupt.
Wie an der Schnur gezogen setzte er seine Schwünge. Es schien, als hätten ihm die Trainer Schienen vorgelegt, denen er nur noch nachzufahren brauchte. Mit schierer Leichtigkeit meisterte er die schwierige Aufgabe. Einmal mehr zeigte er auf einer Strecke, auf der das fahrerische Können den Unterschied macht, allen den Meister. Das Genie war eine Klasse für sich, es bewegte sich in einer eigenen Liga.
Ein weiteres Mal war Odermatt parat. Ein weiteres Mal lieferte er den Beweis, dass ihm Druck, der nach dem Super-G wohl nochmals zugenommen hatte, nichts anhaben kann. Einmal mehr lieferte er im maximalen Ausmass, vergleichbar mit dem, was er im vergangenen Winter in den Riesenslaloms bei seinem ersten Sieg in Adelboden oder bei seinem Olympiasieg an den Spielen in Peking aufgeführt hatte.
Das Zittern am ganzen Körper
Dass ihm Grosses gelungen war, spürte Odermatt natürlich selber. Noch selten jubelte er so ausgelassen nach einer eigenen Fahrt im Ziel, noch selten zeigte er solche Emotionen wie diesmal. Die ersten Interviews gab er mit Tranen in den Augen. In der Leaderbox, der für den Führenden vorgesehenen Zone im Zielraum, verfolgte er das weitere Geschehen auf der Piste mit noch nie gesehener Nervosität. «Während der Fahrt von Aleks (Kilde) zitterte ich am ganzen Körper», erzählte er später.
Odermatt wäre nicht Odermatt, würde er trotz aller Hochgefühle sein engeres Umfeld vergessen. Auf die Analyse seiner Fahrt folgte schnell der Dank an die Trainer-Crew und das Team seines Ski-Ausrüsters Stöckli. Die Symbiosen spielen perfekt. Hier wie da wird alles unternommen, um die bestmöglichen Voraussetzungen zu schaffen, hier wie da wird dem Erfolg alles untergeordnet und kein Aufwand gescheut. «Zwei Tage vor der Abfahrt fuhr ein Mitarbeiter von Stöckli extra zurück ins Werk nach Malters, um einen Ski zu reparieren», erzählte Odermatt. Skirennsport ist Einzelsport, aber eben nicht nur.
Als der Norweger Kilde im Ziel war und später auch der Österreicher Marco Schwarz, der mit einer überragenden Bestzeit im Abschlusstraining hatte aufhorchen lassen, wich bei Odermatt die unerträgliche Anspannung der Gewissheit, dass es geschafft war. Der Olympiasieger und Gesamtweltcup-Sieger durfte sich zum ersten Mal auch Weltmeister nennen.
Odermatt schloss die letzte bedeutende Lücke in seinem Palmares. Er machte das wahr, was Hirscher schon lange gewusst hatte.
ber, sda