Lara Gut-Behrami ist als erste Schweizerin Super-G-Olympiasiegerin. Am Tag der vielen Freudentränen bestätigt sie sich als Beste in dieser Disziplin.
Beide waren sie glücklich nach diesem Super-G, die Athletin und der Mensch Lara Gut-Behrami. Die Athletin hatte an Olympischen Spielen endlich Gold gewonnen, der Mensch konnte sich ausnahmslos freuen, aus Freude weinen. «Wir haben alle geweint. Ich, mein Dad, zuhause meine Mutter und mein Mann. Heute ist der Tag, um den Emotionen freien Lauf zu lassen.»
Gut-Behrami hatte an Olympischen Spielen schon oft geweint. Aus anderen Gründen aber, aus Frust, Ärger und Enttäuschung. Die Bilder der Tessinerin mit Tränen in den Augen und der Bronzemedaille um den Hals vor acht Jahren nach der Abfahrt in Rosa Chutor gingen um die Welt. Im Super-G war sie Vierte geworden, für den Podestplatz fehlten sieben Hundertstel. Vier Jahre später war sie in Pyeongchang erneut Vierte und verfehlte das Podium um einen Hundertstel. Sie stand mit Helm und Skibrille Red und Antwort. Ihre Stimmungslage wollte sie für sich behalten.
Die Wende nach dem Kreuzbandriss
In Sotschi war Gut-Behrami vorab die Athletin, als die sie in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde, als die sie ihre Rolle als Skirennfahrerin spielte. Als Sportlerin eilte sie von Erfolg zu Erfolg, zwei Jahre später war sie Gesamtweltcup-Siegerin. Sie war auf dem Olymp angelangt, ohne bei Olympischen Spielen ganz oben angekommen zu sein.
Ein knappes Jahr nach dem Gewinn der grossen Kristallkugel folgte der wohl einschneidendste Moment in der Karriere. Der an der WM in St. Moritz erlittene Kreuzbandriss und die notwendig gewordene Pause lösten bei Gut-Behrami ein Umdenken aus. Dass in der Zeit der Rekonvaleszenz nicht sie, sondern einzig und allein ihr verletztes Knie im Zentrum des Interesses stand, löste bei ihr Fragen aus.
Gut-Behrami begann über ihr Dasein als Skirennfahrerin zu sinnieren, um die sich ihr Leben in den vorangegangenen zehn Jahren seit ihrem kometenhaften Einstieg in den Weltcup fast ausschliesslich gedreht hatte. Sie aber wollte mehr sein als eine Athletin. Sie wollte auch als Mensch wahrgenommen werden. Sie selber fand während der Zwangspause die Ausgewogenheit. Sie hatte nicht mehr nur ein Leben als Sportlerin, sondern auch als Frau.
Als Frau übt sie sich in Zurückhaltung. Sie geniesst die ruhigen Momente abseits der Rennpisten mit ihrem Mann, dem Fussballspieler Valon Behrami, bewusster, intensiver. Sie hat dem grossen Rummel abgeschworen, der so lange, zu lange eine dominierende Rolle gespielt hatte. Im Kreis ihrer Liebsten kann sie ganz einfach Mensch sein. Sie ist glücklich über den eigenen Reifeprozess.
Die anhaltend hohen Ziele
Den Ambitionen der Athletin Gut-Behrami tat die Neuausrichtung keinen Abbruch. Der Ehrgeiz ist geblieben. «Ich habe weiterhin grosse Ziele. Ich will auch in Zukunft Rennen gewinnen», sagte sie nach ihrer Rückkehr in den Skizirkus. Ganz so gradlinig wie erhofft lief es vorerst nicht. Das Niveau der Leistungen schwankte noch zu sehr. Bis sie in die Spur zurückgefunden hatte, sollte es beinahe drei Saisons dauern.
Seit dem Doppelsieg in den Abfahrten vor zwei Jahren in Crans-Montana gehört Gut-Behrami wieder zu den Allerbesten – nicht nur in der Abfahrt und im Super-G, sondern auch im Riesenslalom, in dem sie im Wortsinn die Kurve nicht mehr gekriegt hatte. Die wiedergefundene Stärke gipfelte im vergangenen Winter in den WM-Titeln im Super-G und im Riesenslalom, ihren ersten Siegen an Grossveranstaltungen überhaupt.
Zur Vollendung des Palmares fehlte also noch der Olympiasieg. Die Lücke schloss Gut-Behrami auf überzeugende Art. In jenen Passagen, in denen technisches Können gefragt war, war sie eine Klasse für sich. Die Bestätigung als Nummer 1 im Super-G gelang ihr vorzüglich. Sie gelang trotz ungünstiger Vorzeichen, hervorgerufen durch eine hartnäckige Erkältung, die Infizierung mit dem Coronavirus und einen schweren Sturz. Gut-Behrami zog die richtigen Schlüsse aus dem «Durcheinander», wie sie es selber nannte, und legte vor der Abreise nach Peking eine Wettkampfpause ein.
Über die Wirkung der verlängerten Erholungsphase war sich die Tessinerin vor ihren ersten Einsätzen in Yanqing nicht bewusst. Der Entscheid zum Startverzicht in den letzten drei Weltcup-Rennen war aber absolut richtig. Die Sportlerin Lara Gut-Behrami wurde als erste Schweizerin Olympiasiegerin im Super-G, der Mensch Lara Gut-Behrami durfte den Emotionen freien Lauf lassen. Er durfte weinen, zum ersten Mal bei Winterspielen aus Freude.
sda