Oscar-Regisseur Asif Kapadia sucht sich nach Ayrton Senna einen weiteren Sportler als Hauptfigur für einen Dokumentarfilm – und findet mit Diego Maradona eine der schillerndsten Figuren, die reichlich Filmstoff bietet.
Kaum ein Filmauftakt ist so rasant: In einem Kleinwagen gepfercht wird der damals grösste Fussballer seiner Zeit in einem Höllentempo mithilfe einer Eskorte in das Stadio San Paolo transportiert, um ihn den sehnsüchtigen Neapolitanern zu präsentieren. Die ärmste Stadt Italiens und wohl auch Europas bekommt den teuersten Spieler der Welt, obwohl die «Azzurri» doch eigentlich notorische Verlierer sind.
«Ich kannte Napoli und Italien nicht. Aber sie waren die Einzigen, die mich wollten», meint Maradona zum Transfer. Und ergänzt, was er sich im Süden Italiens erhofft: «Ich erwarte Ruhe und Respekt.»
Es ist beileibe nicht die einzige Hoffnung, die in seinem aufwühlenden Leben nicht gestillt werden wird. So beklagt er sich kurz nach seiner Ankunft darüber, dass man ihm das Blaue vom Himmel versprochen habe: «Ich verlangte ein Haus und bekam eine Wohnung. Ich wollte einen Ferrari und bekam einen Fiat.»
Überall im Mittelpunkt
Bald gerät der gutgläubige Ausnahmekönner in den Dunstkreis der Mafia: Ein Camorra-Boss sorgt für seinen Schutz, verlangt im Gegenzug ab und zu eine Gefälligkeit, für die eben mal eine goldene Rolex herausspringt. So weiht Maradona auch schon mal eine Bowlingbahn ein.
Am Wochenende führt er dagegen in den italienischen Fussball-Stadien die Regie. Unter seiner Führung mausert sich sein neues Team zum Titelanwärter. Die inbrünstige Begeisterung der Leute für den Stolz der Stadt am Vesuv wird allmählich auch der Nummer 10 bewusst: «Die Neapolitaner leben nicht für sich oder ihre Kinder, sie interessiert nur, wie Napoli am Sonntag spielt.»
Der Junge, der in den Slums von Buenos Aires seine Ballfertigkeit lehrte, fühlt sich in der wilden und chaotischen Stadt wohl. Sie spiegelt seine Persönlichkeit auf dem Feld – schwierige Umstände und Bedingungen motivieren ihn besonders. Sein magischer linker Fuss sorgt fast im Alleingang dafür, dass sich die «Afrikaner Italiens» (Zitat Maradona) mit dem reichen Norden nicht nur messen, sondern die Klubs wie Juventus oder Milan auch mal besiegen können.
So hängt bald in vielen Häusern über dem Bett neben Jesus ein Bildnis von Diego Maradona. Maradona selbst teilt hingegen – trotz Ehefrau – das Bett oft lieber mit irgendeiner Gespielin. Der Sünder meint reuig: «Ich bin kein Heiliger. Es gab wunderschöne Frauen. Und erst noch so viele davon.»
Der brutale Absturz nach dem Höhenflug
Aus einer solchen Liaison entsteht auch Diego Armando Junior. Der Senior will jedoch nichts vom Kind wissen und bestreitet die Vaterschaft. Seine Ausrede: «Ich kann nicht glauben, dass aus einer losen Bekanntschaft ein Kind entstehen kann.» Sein Fokus liegt vielmehr auf der WM in Mexiko. Mithilfe seines persönlichen Trainers macht er sich fit für die Mission Titel. Tatsächlich macht er sich 1986 durch überragende Leistungen unsterblich und darf den WM-Pokal in die Höhe stemmen. Wenige Monate später führt er Napoli zum ersten Meistertitel der Geschichte. Auf dem Friedhof wird ein Banner gehisst: «Ihr habt was verpasst.»
Diego Maradona undiplomatisch: «Ich war ganz oben. Ich allein war der Beste.» Doch die Euphorie wird selbst dem Grössten zu viel. Ein Krankenpfleger lässt sogar abgezapftes Blut mitgehen, welches er als Relikt in die Kirche bringt. Höchstwahrscheinlich hätte man wohl schon da Kokain vorgefunden, das er schon seit Längerem zu sich nimmt, um aus dem goldenen Käfig zu flüchten. Das Umfeld erdrückt ihn zusehends, doch es gibt kein Entrinnen.
An der Heim-WM 1990 kippt die Stimmung – Maradona besiegt mit den Argentiniern in Neapel das favorisierte Italien und wird zum meistgehassten Mann im Land. Bald bricht das Kartenhaus zusammen. Während ihm bei seiner Vorstellung 85'000 Zuschauer zujubelten, flüchtet er nun «still und leise» in seine Heimat. Als gebrochener Mann, dem man sein liebstes Spielzeug weggenommen hat: Den Fussball.
Eine Reise in eine andere Zeit
Der heute 58-jährige Argentinier spricht während des aktuellen Kinostreifens nie in die Kamera – etwa im Gegensatz zu die «Hand Gottes» vom serbischen Filmemacher Emir Kusturica – man hört ihn nur. Mit diesem Trick gelingt es Regisseur Kapadia, die Geschichte spannend mit Bildern aus über 500 Stunden privatem und bisher unveröffentlichem Videomaterials zu verweben, sodass der Zuschauer mit Maradona live im Minutentakt immer mehr in den Abgrund sinkt. Wie in echten Tragödien gibt es für die Hauptfigur kein Entrinnen aus seinem Schicksal: Der Goldjunge (Pibe de Oro) aus der Unterschicht sucht auf seiner Welteroberung eigentlich nur nach Liebe und Anerkennung – die er später im Übermass erhält und daran zerbricht.
Der Film verurteilt die Fussball-Ikone nicht für seine Verfehlungen, sondern erweckt mit seinen behutsamen Szenen vielmehr Verständnis für den beispiellosen Absturz. Dabei beschränkte man sich fast ausschliesslich auf Maradonas Zeit in Neapel, was die letzten zwanzig Jahre leider fast ausklammert.
Nichtsdestotrotz erreicht die Dokumentation eine liebevolle Annäherung an den Mythos des selbsternannten «D10S». Nostalgische Gefühle dürften so viele Zuschauer übermannen. Eine Reise in eine Zeit des Fussballs, wo der Sport wild und roh war, und ein Genie mit vielen Gesichtern über allen thronte.
Die nicht nur für Fussball-Fans berührende Dokumentation läuft ab dem 5. September in den Schweizer Kinos.