Ohne Allüren, mit Witz und Charme: Der verstorbene Franz Beckenbauer liess sich in der Schweiz bei Raclette und Weisswein interviewen. Wie er sich und Sepp Blatter verteidigte, was für Sprüche er klopfte – Erinnerungen von blue Sport Chefredaktor Andreas Böni.
Ulrichen im Wallis, um die 200 Einwohner. Dieser kleine Ort im Wallis wird jeweils im August während der Amtszeit von Fifa-Präsident Sepp Blatter (1998 bis 2015) zum Hotspot der Fussball-Prominenz. Zum «Sepp-Blatter-Turnier» reist die halbe Fussball-Welt in den Heimatort des Fifa-Präsidenten unterhalb des Furka-Passes – den grössten Auftritt hat dabei immer Franz Beckenbauer.
Denn die Lichtgestalt fliegt mit dem Helikopter ein, stellt diesen 400, 500 Meter vor dem Fussballplatz ab. Ist er mal gelandet, ist es beim Kaiser vorbei mit Extravaganz. Dann ist er bodenständig, nett und mit Charisma gesegnet.
Am Samstag im August 2007 spielt er erst mit der Gesellschaft Golf in der Obergesteln, setzt sich danach auf einen Holzstuhl. Ich als 25-jähriger Reporter des deutschen Magazins «Sport Bild» spreche ihn an, ob er sich Zeit für ein Interview nehme. Freilich, sagt er, nimmt sich eine halbe Stunde Zeit.
Sonntagmorgen, Redaktionssitzung in Hamburg, ich nehme telefonisch teil. «Sport Bild»-Chefredakteur Pit Gottschalk plant das Interview nicht für die aktuelle Ausgabe ein. «Wenn wir etwas von Beckenbauer wollen, kann ihn Raimund Hinko anrufen.» Hinko ist eine Legende als Bayern-Reporter und Hierarchie in Deutschland wichtig. Ich schlucke es – und bin als Reporter umso mehr angestachelt.
Ich denke mir: Was Raimund aber nicht schafft, ist Beckenbauer mit dem Fifa- und dem Uefa-Präsidenten an einen Tisch zu bringen. Mit diesem Ziel gehe ich am Sonntag zum Fussball-Turnier.
Am Tisch mit Blatter und Beckenbauer
Als Erstes schnappe ich mir Blatter. Kein Problem, sagt er. Beckenbauer ist sofort dabei, freilich, obwohl er am Tag zuvor sich schon Zeit nahm. Nur einer will sich nicht dazusetzen. «Non», sagt Michel Platini grimmig. Nein. Auch, als Sepp Blatter ihm sagt, es sei für ein grosses deutsches Magazin, wehrt der französische Uefa-Präsident schlecht gelaunt ab.
Aber Blatter und Beckenbauer sind über Jahrzehnte zwei der mächtigsten und bekanntesten Fussball-Funktionäre der Welt. Ich bin zufrieden. Die Sonne knallt gnadenlos auf die Festbänke.
Die Gesprächsthemen? In jenen Tagen schwärmen die beiden vom Fussball der Bayern, den die Mannschaft von Ottmar Hitzfeld zelebriert. «Sensationell», sagt Blatter. Und Beckenbauer ergänzt: «Es macht schon Spass. Vor allem im Vergleich zum vergangenen Jahr. Jetzt wollen alle den Ball, bieten sich an. Wenn einer letztes Jahr den Ball hatte, hast du ihm viel Glück gewünscht, damit er einen Anspielpartner findet. Damals haben sich alle jeweils weggedreht. Wenn der Ballführende dann einen Anspielpartner fand, durfte man ihm fast schon gratulieren.»
«Afrika ist mir eine Herzensangelegenheit»
Man schwärmt von Ribéry (Beckenbauer: «Publikumsliebling! Weltstar!»), Real (Blatter: «Real hat im Moment so viele Spieler, die wissen ja gar nicht, wen sie wo aufstellen sollen») und redet über Transferregeln. Beckenbauer sagt: «Ich bin für klare Regeln. Man muss den Leuten sagen: Wenn du hier für drei Jahre unterschreibst, dann bleibst du auch für drei Jahre hier! Drei Jahre, fertig! Wenn du bei einem Dreijahres-Vertrag nach zwei Jahren gehen kannst, dann hätte man einen Zweijahres-Vertrag machen können.»
Und Blatter kündigt an, Beckenbauer auf Reisen schicken zu wollen. «Wir wollen ihn gern in humanitären Werken auf der Welt einsetzen. Das Programm, wo er hingeht, wird gerade erarbeitet.»
Beckenbauer: «Natürlich ist mir vor allem Afrika eine Herzensangelegenheit. Das ist der ärmste Kontinent der Welt. Ich bin erschrocken, wie schlecht es den Menschen dort geht. Das ist eine Katastrophe. Zum Beispiel in Luanda, der Hauptstadt Angolas, war 27 Jahre Bürgerkrieg. Die Stadt ist eine einzige Müllhalde. Und das ist eine Hauptstadt! Da Freude zu bringen, da zu helfen, das kann nur der Fussball, oder vielleicht noch die Musik. Fussball ist das einzig völkerverbindende Element auf der Erde.»
Beckenbauer spielt in jenem Jahr beim Turnier auch noch Fussball. Das erste Interview erscheint übrigens nie, das Doppelinterview riesig.
Zum Raclette gibt's natürlich Weisswein
Fünf Jahre später. Beckenbauer schaut aufs Feld. «Das tu ich mir nicht mehr an», sagt er, «wenn du da die dicken Bäuche siehst ...»
Es ist das Jahr 2012. Franz Beckenbauer, inzwischen 66, trifft Sepp Blatter, inzwischen 76, diesmal ist es ein Gespräch für den «Blick». Das Raclette ist da, mit Gurke und Kartoffel garniert. Dazu ein Glas Fendant, Walliser Weisswein. Herr Beckenbauer, Weisswein oder Weissbier? «Alles zu seiner Zeit. Hier zum Raclette trinke ich natürlich lieber Weisswein.» Und Blatter? «Ich bin kein grosser Bier-Trinker. Weissbier, zum Beispiel mit Weisswürsten, ist allerdings etwas ganz Tolles. Zum Mittagessen genehmige ich mir zwischendurch das eine oder andere.»
In jenen Tagen muss man über Uli Hoeness reden. Er attackiert Blatter hart, fordert ihn immer wieder zum Rücktritt auf. Sagt unter anderem, wenn Blatter 2015 nochmals als Fifa-Boss kandidiere, sei das «der Witz des Jahres».
Beckenbauer: «Ich glaube, dass das manchmal aus Unkenntnis der Fifa-Fakten heraus passiert. Der Uli sollte zwar Bescheid wissen, aber er und andere Menschen beim FC Bayern verstehen nicht wirklich, wie die Fifa strukturiert ist. Dass in einem Verband mit 209 Ländern nicht immer alles glatt laufen kann, ist doch normal.»
«Hätte ich kandidiert, wäre ich sicher gewählt worden»
Wen Beckenbauer denn lieber möge, Uli Hoeness oder Sepp Blatter? «Es ist unwichtig, wen man lieber hat. Beide haben extrem viel für den Fussball getan. Der Uli war als Spieler Weltmeister, hat eine grossartige Manager-Karriere gemacht. Jetzt hat er mich als Bayern-Präsident abgelöst. Er steht für das Wohl des Vereins. Sepp Blatter ist seit 1975 bei der Fifa, erst als Generalsekretär, dann als Präsident. Und ich kann sagen: Die Fifa war nie besser aufgestellt als heute. Es ging dem Weltfussballverband nie besser. Es ist die beste Zeit der Fifa. Und Sepp Blatter ist der beste Präsident.»
Und weiter: «Ich habe in Deutschland manchmal das Gefühl, dass da ein Spieler am Tor vorbeischiesst und dann ist der Fifa-Präsident schuld. Viele Menschen in der Bundesliga reden über Dinge, ohne die Strukturen zu kennen. Man merkt nicht, dass man nur zu den vier bis fünf Ländern gehört, die Sepp Blatter attackieren. Wenn Sepp bei allen Verbänden in der Welt heute die Vertrauensfrage stellen würde, dann wird er mit 99 Prozent der Stimmen gewählt. Davon bin ich absolut überzeugt. Noch schlimmer sind aber die Politiker, die überall reinreden wollen. Politiker, die häufig keine Ahnung haben. Quasi null Ahnung.»
Blatter gibt die Blumen zurück, sähe in Beckenbauer einen guten Nachfolger als Fifa-Boss. «Vom Charisma her, von seiner Fussball-Kenntnis her ganz sicher. Zudem hat er die Akzeptanz auf der ganzen Welt. Sogar die Deutschen wären für ihn ...»
Beckenbauer: «Nein, hören Sie: Ich bin aus allen Ämtern raus, weil ich mehr Zeit für meine Kinder will. Mein Sohn Joel ist 12, meine Tochter Francesca jetzt acht Jahre alt. Jetzt will man mir plötzlich ein neues Amt andichten? Nein, nein. Keine Spekulationen, das werde ich nicht machen. Ausserdem hätte ich 2006 schon Uefa-Präsident werden können. Als Lennart Johannsen aufhörte, wollte er unbedingt, dass ich sein Nachfolger werde. Da habe ich für einen kurzen Moment überlegt, ob ich mir das antun will. Als ich es dann wieder nüchtern betrachtet habe, verwarf ich den Gedanken sofort wieder. Ich habe also mehr oder weniger den Weg für Michel Platini freigemacht. Denn wenn ich kandidiert hätte, wäre ich hundertprozentig sicher gewählt worden. Aber es ist besser so.»
Die Sache mit dem Sommermärchen
Und schon damals ist die WM-Vergabe 2006 nach Deutschland ein Thema. Eine Vergabe, welche Franz Beckenbauer später noch verfolgen wird. Blatter deutet Unregelmässigkeiten an. Charles Dempsey, Exekutiv-Komitee-Mitglied, stand auf und verliess den Raum. Deutschland bekam mit 12:11 Stimmen den Zuschlag.
Blatter: «Ich habe gesagt, dass Dempsey den Saal verlassen hat, nicht mehr, nicht weniger. Eine Tatsache. Er stimmte nicht ab. Wir hatten damals das System der halboffenen Abstimmung. Dempsey stand auf und sagte: «Ich weiss nicht mehr, was ich machen soll. Mr. President, ich verlasse den Raum.»
Beckenbauer damals: «Eigentlich hat das ja uns geschadet. Dempsey wollte für uns stimmen. Wir haben ihn öfters in seiner Heimat Neuseeland besucht und er hat uns versprochen, seine Stimme uns zu geben. Er wurde da aber heftig unter Druck gesetzt. Von seiner eigenen Regierung. Dann hat er sich so entschieden, nicht abzustimmen.»
Zur Frage, dass die Ethik-Kommission der Fifa die WM-Vergabe 2006 nochmals aufrollen wolle, sagt Blatter: «Ich kann mich dazu nicht äussern, das ist Sache der Ethik-Kommission.» Und Beckenbauer: «Das ist der grösste Quatsch des Jahrhunderts. Es gab und gibt nichts aufzudecken bei der Bewerbung 2006. Mir geht dieser Käse auf den Geist.»
Bis heute ist der Sommermärchen-Skandal nicht lückenlos aufgeklärt. Juristisch ist der Fall 2020 verjährt und von der Bundesanwaltschaft inzwischen eingestellt worden. Blatter ist zu jenem Zeitpunkt schon länger nicht mehr Präsident, Beckenbauer hat sich ins Privatleben zurückgezogen. Die Vorwürfe rund um die WM 2006 belasten ihn lange, er kämpft mit verschiedenen gesundheitlichen Problemen. Nun, nach langer schwerer Krankheit ist er gestorben.
Die Lichtgestalt des Fussballs, sie ist nun im Himmel.