Nachwuchs-Alarm im Schweizer Fussball Knäbel: «Die Österreicher haben uns schon lange abgehängt»

Von Jan Arnet

7.9.2024

«Die Klubs müssen wieder mehr auf ihre Nachwuchschefs hören», sagt Peter Knäbel.
«Die Klubs müssen wieder mehr auf ihre Nachwuchschefs hören», sagt Peter Knäbel.
Keystone

In der Super League kommen Schweizer Talente immer weniger zum Zug. Das könnte für die Nati zum Problem werden. Der frühere Nachwuchschef Peter Knäbel sagt: «Es wird bald schwierig für uns, mit Nationen wie Österreich oder Norwegen mitzuhalten.»

Von Jan Arnet

In der Super League kommen deutlich weniger Schweizer Talente im Alter von unter 21 Jahren zum Einsatz als noch vor fünf Jahren. Auf einheimische Talente setzt fast keiner mehr. Stattdessen werden ausländische Talente verpflichtet. Mit dem Ziel, diese später für viel Geld weiterzuverkaufen. Beim SFV ist man besorgt, was die Entwicklung langfristig für die Schweizer Nati bedeutet. «Ich mache mir Sorgen», gibt Nati-Direktor Pierluigi Tami offen zu.

blue Sport hat Peter Knäbel zum Gespräch getroffen. Er hat jahrelang im Schweizer Fussball-Nachwuchs gearbeitet, war unter anderem Leiter der Nachwuchsabteilung in Wintherthur (2000 bis 2003) und beim FC Basel als Technischer Direktor und Nachwuchschef (2003 bis 2009) tätig.

Von 2009 bis 2014 war Knäbel Technischer Direktor beim Schweizerischen Fussballverband. Nach dem Abstieg des FC Zürich 2016 durchleuchtete und analysierte der Deutsche den FCZ-Nachwuchs. Zuletzt war Knäbel sechs Jahre lang in verschiedenen Funktionen bei Schalke 04 tätig.

Peter Knäbel, der Schweizer Fussball hat ein Nachwuchsproblem. In der Super League setzt fast kein Klub mehr auf die eigene Jugend. Was heisst das für die Zukunft?

Die Entwicklung der Spielzeit von Schweizer Talenten ist eindeutig negativ. Dazu gehört auch der internationale Vergleich, denn wir müssen immer auch die langfristige Perspektive der Nati im Blick haben. Wenn man sieht, wie sich Österreich, Belgien oder Norwegen entwickelt haben, ist es schwierig für uns, da mitzuhalten. Diese Nationen könnten uns in den nächsten Jahren abhängen.

Woran machen Sie das fest?

Regelmässige Spielzeit ist der Schlüssel der Talententwicklung. Die kann man messen, nachvollziehen und vergleichen. Hinweise darauf liefern «einfachere» Zahlen: Wenn man beispielsweise auf die Anzahl Schweizer in der Bundesliga blickt, muss man feststellen, dass uns die Österreicher da schon lange abgehängt haben.

Und was machen die Norweger besser als wir?

Sie setzen offensichtlich mehr auf den eigenen Nachwuchs. Beispiel Bodø/Glimt: Die spielen im Champions-League-Playoff mit neun Norwegern in der Startelf. Letztes Jahr schaffte es Norwegen bei der U19-EM in den Halbfinal. Wir müssen also genug Toptalente heranführen und ihnen das Vertrauen in Form von regelmässiger Spielzeit geben. In diesen Bereichen waren wir schon besser. Andere Nationen machen uns vor, wie es heute geht.

Nati-Direktor Pierluigi Tami sagt, dass man jetzt reagieren muss, sonst könnte es langfristig gefährlich werden für die Schweizer Nati.

Es ist wichtig, dass das Thema jetzt auf dem Radar ist. Ich kann verstehen, dass das Thema Ausbildung deutlich unattraktiver ist als Transfernews. Das ändert sich erst bei Misserfolgen. Dann ist es aber meist schon viel zu spät.

Tami: «Die Situation im Nachwuchs könnte zum Problem in der Nati werden»

Tami: «Die Situation im Nachwuchs könnte zum Problem in der Nati werden»

Immer weniger Klubs in der Super League setzen auf Schweizer Talente. Nati-Direktor Pierluigi Tami ist besorgt: «Das könnte langfristig gefährlich werden für die Nati. Wir müssen reagieren, sonst haben wir bald ein Problem.»

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In den letzten Jahren lief es der Nati aber gut.

Aber wie sieht es in vier, fünf Jahren aus, wenn Xhaka, Akanji und Co. nicht mehr da sind? Ich sehe aktuell nicht die Breite und nur sehr vereinzelt die individuelle Qualität, die diese grosse Lücke füllen könnte. Wir müssen einen Schritt zurück machen, auf die Besten schauen und von ihnen lernen.

Wer sind die Besten?

Die Spanier. Vereine wie Real Sociedad zeigen vor, wie man mit guter Nachwuchsarbeit auch viel Geld verdienen kann. Bei Athletic Bilbao spielen nur Jungs aus dem Baskenland, trotzdem spielen sie oft europäisch.

Was machen sie besser als die anderen?

Gezielt die einzelnen Spieler fördern, das können die Spanier besser als alle anderen. Und das zeigen sie seit Jahrzehnten. Inzwischen auch bei den Frauen. Nicht umsonst hat Spanien die erfolgreichsten Vereine, ist Europameister geworden und im Nachwuchs immer stark.

Was muss passieren, damit die Schweiz auch in Zukunft mit den Besten mithalten kann?

Relevante Spielzeit ist das A und O. Die jungen Spieler müssen in Profiligen regelmässig Einsatzzeit kriegen. Dafür braucht es vorher einen Übergangsbereich, der qualitativ so gut gestaltet ist, dass er bestmöglich auf den Profifussball vorbereitet. Und am Ende muss die Stimme der Nachwuchschefs und der Trainer in diesem Bereich mindestens genauso gehört werden wie die der Chefscouts für den internationalen Markt.

Wie meinen Sie das?

Ich war damals beim FC Basel als Nachwuchschef im Verwaltungsrat. Da war es keine Frage, dass ich zu Gigi Oeri gehen und ihr sagen konnte, dass Ivan Rakitic bereit ist für die Profis. Christian Gross hätte den genauso gesehen, die Top-Spieler werden sich immer durchsetzen. Die Frage ist aber, wie schnell das passiert.

Peter Knäbel war von 2009 bis 2014 Technischer Direktor beim Schweizerischen Fussballverband.
Peter Knäbel war von 2009 bis 2014 Technischer Direktor beim Schweizerischen Fussballverband.
Keystone

Wie kann man das Nachwuchs-Problem jetzt noch in den Griff kriegen?

Unsere Talente müssen möglichst früh möglichst viel Einsatzzeit bei den Profis kriegen. Wer ein grosser Spieler werden will, muss früh auf Top-Niveau spielen. Über 70 Prozent der Spieler, die im Halbfinal der Champions League spielen, haben ihr erstes Profispiel schon mit 17 Jahren gemacht.

Beim SFV heisst es, dass man möglicherweise die Challenge League vergrössern müsste, um jungen Spielern mehr Platz zu geben. 

Ich halte insbesondere bei Fragen des Modus wenig davon, jedes Jahr wieder etwas zu ändern. Es ist trotzdem nachvollziehbar, dass darüber nachgedacht wird, weil so die relevante Spielzeit vergrössert werden könnte.

Wie kann man das Problem sonst noch unter Kontrolle bringen?

Entweder über Anreizsysteme oder Reglementierungen. Ich persönlich bin kein Fan von Reglementierungen, aber das wäre ein möglicher Schritt. Die Türken haben beispielsweise eingeführt, dass maximal noch zwölf Ausländer im Kader stehen dürfen. Anreizsysteme sind meines Erachtens besser, aber sie müssen immer wieder auf ihre Wirksamkeit überprüft werden.

Die Swiss Football League hat mit der «Nachwuchs-Trophy» ein solches Anreizsystem eingeführt. Geholfen hat es noch nicht wirklich. Viele Klubs schauen sich immer noch lieber im Ausland nach Talenten um.

Grundsätzlich ist ein U19-Spieler aus Belgien nicht per se besser als ein U19-Spieler aus der Schweiz.

Aber die Chance ist grösser, dass mit dem Belgier mehr Geld eingenommen wird.

Nicht unbedingt. Gutes Scouting kann sehr schnell Geld bringen. Das sehen wir an der meist kurzen Verweildauer der ausländischen Talente in den Klubs. Einen im eigenen Klub ausgebildeten Spieler kann man dafür über die Jahre formen, man kennt ihn und sein Umfeld mit allen Facetten. Zudem ist seine Identifikation mit dem Verein und der Region höher.

Schauen die Klubs einfach zu wenig auf die eigenen Talente?

Es gibt in der Schweiz Vereine, die Jahr für Jahr Millionen in ihre Nachwuchszentren stecken. Das ist immer ein wesentlicher Teil des Vereinsbudgets. Und daran müssen sich auch alle messen lassen. Die Messgrössen sind Spielzeiten und Transfererlöse. Deshalb muss es innerhalb des Systems auch Druck geben, damit wieder mehr eigene Spieler herausgebracht werden. Dazu gehört, dass der Leiter der Nachwuchsabteilung im Verein eine wichtige Stimme hat.

Wie wichtig ist den Klubs noch die Identifikation der Spieler?

Wir haben alle gesehen, was in Basel bei Xherdan Shaqiris Rückkehr los war. Die Fans sind nicht euphorisch, weil Shaqiri mal mit Basel Titel gewonnen hat, sondern weil er Rotblau im Herzen trägt, seit er ein Kind ist. Ihm nehmen die Fans die Vereinsliebe ab. Sie wissen: Er ist einer von uns. Wer soll das denn sein, in den nächsten 10 bis 15 Jahren? Heute spielt die Identifikation leider eine untergeordnete Rolle, dabei wäre eine hochwertige und nachhaltige Ausbildung ein wichtiger Schlüssel dazu.

Riskieren die Vereine damit, dass die Fans davonlaufen?

Das glaube ich nicht. Das Resultat der 1. Mannschaft am Wochenende wird deutlich intensiver diskutiert als die Einsatzzeit der im Verein ausgebildeten Talente. Das ist aus Fansicht auch absolut nachvollziehbar. Es beginnt leider erst im Misserfolgsfall. Und macht dann umso weniger Sinn, weil man ja weiss, dass Nachwuchsarbeit längere Entwicklungsperioden braucht. Deshalb tun sich auch so viele Klubs schwer, die Nachwuchsarbeit nachhaltig zu einem essenziellen Strategieelement zu machen.

Zwischen 2018 und 2024 war Knäbel beim deutschen Grossklub Schalke 04 tätig.
Zwischen 2018 und 2024 war Knäbel beim deutschen Grossklub Schalke 04 tätig.
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Stehen die Trainer zu sehr unter Druck? Weil sie wissen, dass sie sich nicht viele Niederlagen erlauben dürfen und deshalb weniger mutig sind?

Es kommt immer darauf an, woher der Druck kommt. Der FC Luzern ist der Super-League-Klub, der mit Abstand am meisten auf die eigene Jugend setzt. Auch weil mit Laurent Prince der ehemalige Nachwuchschef im Verwaltungsrat sitzt. Der bringt das Thema Nachwuchs immer wieder auf den Tisch und ist ein glaubwürdiger Vertreter. Das ist aus meiner Sicht der richtige Weg.

Letzte Saison hat der FCL das Ziel, die Meisterrunde zu erreichen, aber verpasst.

Trainer Mario Frick durfte dennoch bleiben. Weil man sieht, wie gut er mit den Jungen arbeiten kann. Er kriegt die Zeit, um etwas aufzubauen. Jetzt ist Luzern hervorragend in die neue Saison gestartet. Und bezüglich Trainer müssen wir uns auch immer wieder die gleiche Frage stellen.

Bitte?

Wo sind die Trainertalente und -persönlichkeiten in den Vereinen, deren Stimme für den Nachwuchs Gewicht hat und die sich später einmal international beweisen? Urs Fischer oder Gerardo Seoane waren in den Nachwuchsabteilungen wichtige Förderer ihrer Talente und hatten eine gewichtige Stimme im Verein. Diese Qualität brauchen wir jeden Tag auf dem Platz mit den besten Talenten.

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