Die Wirtschaft in Trümmern, der Fussball im Hoch: Argentinien ist am Boden, träumt aber gleichzeitig vom dritten Weltmeistertitel. Es herrscht Ausnahmezustand – aus mehreren Gründen.
Buenos Aires, 13. Dezember 2022, 17:54 Uhr. «Por favor, por favor!», fleht der Kommentator des nationalen Sportsenders «TyC». Es laufen die letzten Sekunden der Halbfinalpartie zwischen Argentinien und Kroatien. Der Finaleinzug der Albiceleste steht kurz bevor.
Die Strassen der Millionenstadt sind menschenleer, der Verkehr stillgelegt. Sogar die Busfahrer haben ihre Arbeit eingestellt. Zu hören ist einzig die blecherne Stimme aus dem TV-Gerät. «Bitte, bitte, pfeif ab!» Simultan dröhnt sie durch die Scheiben unzähliger Restaurants und Bars, fliesst von den Fensterbrettern der Hochhausschluchten und hallt vom Asphalt wider gen Himmel. «Por favor!»
Dann ertönt der Pfiff.
Wie eine Sturzflut legt sich der Lärm über die Stadt. Der Boden bebt. Argentinien steht im WM-Final! Die Menschen strömen auf die Strassen. Sie lassen ihren Emotionen freien Lauf. Es wird geweint, getanzt, gesungen und geküsst. Innert Minuten verwandeln sich Hauptverkehrsachsen in Partymeilen, Balkons in DJ-Pults und Restaurants in Festhütten. So war es denn auch schon nach den Siegen gegen Mexiko, Polen, Australien und Holland. Aber dieses Mal ist alles anders. Es ist noch ein bisschen verrückter.
Denn in Argentinien geht es bei der 22. Ausgabe der Weltmeisterschaft um weit mehr als nur um Fussball. Das Land steckt in einer seiner schwersten Krisen überhaupt. Die Inflation, die in der Schweiz und in Europa seit einigen Monaten spürbar ist, verfolgt den einst so wohlhabenden Staat im südlichsten Teil Amerikas schon länger. Und: Es ist viel schlimmer.
Ein Kampf ums Überleben
Hyperinflation nennt sich das. Der Wertverlust des argentinischen Pesos schreitet in einem derartigen Tempo voran, dass der Grossteil der Bevölkerung dazu gezwungen ist, von der Hand in den Mund zu leben. Geld sparen, das geht hier nicht. Im Oktober lag die Inflationsrate zum Vorjahr bei 88 Prozent. Prognosen zufolge könnte sie bis Ende Jahr 100 Prozent erreichen. Zur Veranschaulichung: Wer während der letzten WM vor vier Jahren einen Schweizer Franken wechselte, erhielt dafür rund 28 Pesos. Heute sind es 186, auf dem Schwarzmarkt gar 360.
Mehr als 40 Prozent der Bevölkerung gilt als strukturell arm. Die Regierung versucht eine weitere Eskalation der Lage mit Sozialhilfeprogrammen zu verhindern. Aber auch deren Effizienz lässt nach. Gleichzeitig steckt die Politik selbst in einer gewaltigen Krise. Während die Staatsverschuldung exorbitante Ausmasse annimmt und die ärmere Bevölkerungsschicht bei der schonungslosen Teuerung ums Überleben kämpft, zerfleischen sich die Politiker gegenseitig.
Die Linke fordert die sofortige Einführung eines Mindestlohns, liberale Kräfte drängen auf einen Wechsel zum US-Dollar. Die Tonlage wird von Tag zu Tag schärfer. Klar ist: Die Verantwortung trägt niemand. Das Führungspersonal des Wirtschaftsministeriums wechselt fast monatlich und erst Anfang Dezember wurde die aktuelle Vizepräsidentin wegen Veruntreuung öffentlicher Mittel zu sechs Jahren Haft verurteilt. Es geht um Milliarden. Ob die mächtige Linken-Politikerin ihre Strafe absitzen muss, ist derweil höchst fraglich. Sie selbst spricht von «Justizmafia» und ruft ihren Anhang zum Widerstand auf.
Eine Lichtgestalt mit Fussballschuhen
Auf den Strassen der Hauptstadt ist der Ärger beträchtlich. «Schwierig war es schon immer», heisst es. «Aber mittlerweile ist es nur noch ein Kabarettstück», so der Tenor. Das Vertrauen in die Politik ist in Argentinien längst gestorben. Nur eine öffentliche Figur vermag es noch, die Massen zu mobilisieren und ihnen Glaube und Hoffnung zu schenken: Lionel Messi.
Wenn der 35-Jährige im 13'000 Kilometer entfernten Katar auf den Rasen tritt, atmet eine ganze Nation im Rhythmus seiner Schritte. 90 Minuten lang können die Argentinier ihre täglichen Sorgen vergessen und für einmal etwas gewinnen. Ob gefälschtes, originales oder hausgemachtes Trikot, jedes Kind trägt seinen Namen auf dem Rücken. Die kurze Einblendung einer Nahaufnahme des siebenfachen Ballon-d’Or-Gewinners genügt, schon brandet an jeder Strassenecke der Hauptstadt lauter Jubel auf. Messi ist der Hoffnungsträger. Der «Papá». Der Messias. Glaube und Erwartung eines ganzen Landes lasten auf seinen Schultern.
Und er liefert. Er trocknet die Tränen nach der Saudi-Arabien-Pleite und verwandelt das krisengeschüttelte Land mit seinen Toren gegen Mexiko, Australien, Holland und Kroatien in ein überdimensionales Tollhaus. «La Pulga» schenkt ebenjenes Vertrauen, das die argentinische Gesellschaft in so vielen anderen Bereichen misst. Am Sonntag setzt die Fussballlegende in seinem wohl letzten WM-Spiel nun zum Meisterstück an. Seine Landsleute werden bereit sein. Von Ushuaia bis Salta, von Buenos Aires bis Doha.
Ein letzter Tanz.
Und dann tanzen sie alle. «Por favor!»