Vor einem Jahrzehnt ereignete sich die «Schande von Zürich». Nach dem Trauerspiel von damals wurde von den beteiligten Parteien eine Reaktion gefordert. Doch viel ist nicht passiert, wie die Vorfälle vom Samstagabend schonungslos offenbaren.
Am 2. Oktober 2011 kommt es beim Zürcher Derby zu wilden Szenen. In der Schlussphase präsentieren die GC-Fans in ihrer Kurve eine «spöttische Hommage» mit einer gestohlenen Fahne eines FCZ-Fanklubs. In der Fussballfanszene ein grobes Foul. Die Provokation lassen sich einige FCZ-Anhänger nicht bieten und stürmen auf die gegnerische Kurve zu.
Ein FCZ-Fan schmeisst auch eine Leuchtfackel in die GC-Kurve. Danach kommt es auf der Osttribüne, wo vor allem neutrale Zuschauer und Familien anwesend sind, zu wüsten Schlägereien. Der Sicherheitsdienst ist mit der ausser Kontrolle geratenen Lage völlig überfordert. Am Ende bleibt dem Schiedsrichter nichts anderes übrig, als das Spiel frühzeitig abzubrechen. Die Ausschreitungen fordern mehrere Verletzte.
Die geforderten Reaktionen
Der Schock bei den beteiligten Personen sass tief, wie eine Rückblende bei «watson» zeigt. GC-Präsident Roland Leutwiler wollte die Bilder des Täters, der die Leuchtfackel ins Publikum geworfen hatte, sofort ins Internet stellen. «Und manchmal habe ich wirklich ein echtes Problem damit, dass unsere Rechtssprechung nicht so ist, dass man diese Typen nicht an der Nase nehmen, die Bilder ins Internet stellen und sofort aburteilen kann – das ist absolut jenseits ... », hielt er fest. Der Täter stellte sich tatsächlich später der Polizei, als Bilder von ihm im Internet kursierten. Er wurde 2015 zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 13 Monaten und zu 500 Franken Busse verurteilt.
FCZ-Präsident Ancillo Canepa meinte: «Mich scheisst es auf Deutsch gesagt langsam an. Es ist weiss Gott schwierig, einen Profifussballklub zu führen, erst recht mit den Rahmenbedingungen in der Stadt Zürich. Und dann muss man sich noch mit so etwas auseinandersetzen.» Die Klubs liessen sich «von einer Minderheit auf der Nase herumtanzen», zitierte ihn die NZZ. Die Profispielervereinigung SAFP forderte laut «Kicker» als Sofortmassnahme bereits «Polizeipräsenz auch innerhalb des Stadions sowie das sofortige Einschreiten der Polizei während des Spiels».
«Im Umgang mit Pyros und Petarden braucht es Nulltoleranz», forderte der Zürcher Stadtrat Gerold Lauber gegenüber der Nachrichtenagentur Keystone-sda. Er nahm auch die Klubs in die Pflicht, die Nulltoleranz mitzutragen. Bauliche Massnahmen wie etwa verstärkte Abgrenzung der Sektoren im Letzigrund sollten zusätzliche Sicherheit generieren.
«Ich wäre für Polizei im Stadion. In Deutschland macht man das so und hat Erfolg», so Christian Wenger vom FCZ-Fanclub 1896 gegenüber «20min». Viele Exponenten plädierten auch für personalisierte Tickets.
Auch die Südkurve (FCZ) reagierte mit einem Communiqué ebenfalls auf die Vorkommnisse. Man wolle in Zukunft etwas Zurückhaltung ausüben mit der Pyrotechnik. Gänzlich darauf verzichten wolle man indes nicht. «Es ist nicht der Einsatz von Pyrotechnik, sondern dessen Missbrauch, der den Vereinen schadet», so die Südkurve.
Die tatsächlichen Umsetzungen
Am Samstagabend stand erneut das Zürcher Derby auf dem Programm. Nicht das spektakuläre Spiel (3:3) steht danach aber im Fokus, sondern die Neuauflage der «Schande von Zürich». Einige Fans des FCZ stürmten auf die Kunststoff-Bahn rund um den Rasen und warfen Feuerwerkskörper in den GC-Fansektor. Obwohl es dieses Mal offiziell keine Verletzten gab, erinnern die Aussagen stark an früher.
«Es ist enttäuschend, dass ein faires und spannendes Derby so enden musste. Diese sogenannten Fans schaden sich, der Kurve und dem FC Zürich», meinte FCZ-Präsident Canepa. Die SFL schrieb, sie werde ein Verfahren eröffnen und erwarte, «dass die Täter identifiziert und für lange Zeit von Fussballspielen ausgeschlossen werden».
Während der grossen Wellen in der Corona-Krise wurden hierzulande die Spiele vor leeren Rängen ausgetragen. Die Stimmung war trist, aber zumindest war auch die Sicherheit kein Thema mehr. Politiker im Wallis nutzten dennoch die Gunst der Stunde: In Sion führte man diesen Sommer unter dem Deckmantel der Pandemie personalisierte Tickets ein und schloss gleich den Gästesektor. Inzwischen krebste man aber im Wallis – auch unter dem Druck von Sion-Präsident Christian Constantin – zurück.
Das Letzigrund gehört zwar der Stadt Zürich, aber GC und der FCZ sind als Mieter und Veranstalter verantwortlich für die Sicherheit. Polizeipräsenz auch innerhalb des Stadions wird man also weiterhin nicht sehen. Bengalos und Co. sind zwar schon lange verboten, aber dem Einsatz von Pyrotechnik konnte man bisher keinen Riegel schieben. Am Samstagabend zumindest musste ein Polizei-Vertreter während der Partie fleissig Striche machen, um über die Anzahl gezündeter Feuerwerkskörper im Bilde zu bleiben. Gefährlich wird es aber vor allem, wenn Leuchtraketen als Wurfgeschosse benutzt werden. Um solche Übeltäter zu eruieren, sind in den Schweizer Stadien Videokameras im Einsatz. Nichtsdestotrotz ist es offenbar schwierig, die meist vermummten Personen auch zuordnen zu können.
Ein griffiges Instrument sind die Stadion- oder Rayonverbote, welche von den Behörden gemäss Insidern auch immer häufiger angewendet werden. Lücken im Sicherheitsdispositiv sind in gewissen Stadien aber weiterhin vorhanden. Die knapp Hundertschaft grosse FCZ-Gruppe benutzte etwa auch eine Leiter, um schnell wieder in ihrer Kurve in der Anonymität zu verschwinden.
Fazit
Die grosse Mehrheit der politischen Amtsträger und Fussballfunktionären sind sich einig. Die nötigen gesetzlichen und technischen Instrumente sind in der Theorie alle vorhanden, um fehlbare Zuschauer zu identifizieren. Mit der Umsetzung hapert es aber dann. So tun sich in der Praxis manche Klubs immer noch schwer, die gewaltbereiten Fans – welche immer noch klar in der Minderheit sind – aus ihren Stadien auszusperren. Eine Selbstreinigung in der eigenen Kurve ist schwierig zu initiieren.
Viel geändert hat sich also im letzten Jahrzehnt nicht an der Ausgangslage. Die aktuellen Exponenten aus allen Lagern sind also gefordert, damit solche Vorfälle nicht mehr vorkommen. Bis vor Kurzem schien die «Schande von Zürich» ein Relikt aus der Vergangenheit – wie die Schweizer Fussballszene nun schmerzhaft miterlebte, sind die alten bösen Geister nicht ganz vertrieben.