Der letzte Vorhang in der altehrwürdigen Valascia ist gefallen. Für den ewigen Liga-Underdog Ambri-Piotta endete mit dem Spiel gegen Fribourg-Gottéron (2:3) am Ostermontag die Saison und ein bedeutendes Kapitel in seiner 84-jährigen Klubgeschichte.
Die Valascia, das 1959 eröffnete «Stadion der 1000 Emotionen» (Tages-Anzeiger), soll im Sommer immerhin noch offiziell verabschiedet werden. Noch einmal soll dann im Beisein der Fans auch Ambris ergreifende Sieges-Hymne «La Montanara» in den alten Gemäuern ertönen. Sofern es die dann geltenden Corona-Richtlinien zulassen.
Dass nun auch der Pflichtspiel-Abschied ohne Fans innerhalb des Stadions erfolgen musste, ist bitter. Denn unter normalen Umständen hätte Gänsehaut-Ambiance geherrscht. «Wenn du Eishockey pur erleben willst, dann musst du nach Ambri fahren», urteilte einst der frühere kanadische ZSC-Meister-Trainer Marc Crawford, der 1996 die Colorado Avalanche zum Stanley-Cup-Triumph geführt hatte.
Wie unverwüstlich stimmungsgewaltig Ambris Anhänger sind, erlebte man auch 2019 bei der Spengler-Cup-Premiere des Nordtessiner Dorfklubs. In Davos hatten die Ambri-Fans laut Kennern des Traditionsturniers für die beste, jemals ins Landwassertal importierte Stadion-Ambiance gesorgt.
Liebe auf den ersten Blick
Bei der Lancierung des Saisonkarten-Vorverkaufs liess Ambri-Piotta im letzten Sommer via Twitter einige Fans schildern, was die Faszination von Spielen in der Valascia ausmacht. «Ich ging als kleiner Knirps hin. Und es zog mir auf Anhieb den Ärmel rein», beschrieb da etwa ein Zentralschweizer im mittleren Lebensabschnitt seine «Liebe auf den ersten Blick». Der Mythos der Valascia und seinem von den frenetischen Fans zu unerschüttlicher Hingabe getriebenen Hockey-Team reicht indes weit über die Landesgrenzen hinaus. Viele Puck-Liebhaber aus Nah und Fern suchten und fanden in Ambri den Gral ihrer Sehnsucht. Minustemperaturen im zweistelligen Bereich in den Wintermonaten konnten die Zuneigung nicht schmälern.
Am Ostermontag liessen es sich immerhin rund 200 Ambri-Fans ausserhalb der Valascia nicht nehmen, ihr Team im letzten Saisonspiel lautstark zu unterstützen – und nach Spielschluss nachhaltig in die Ferien zu verabschieden. Als «hartnäckig und bissig» wird auch das aktuelle Ambri-Piotta von seinen Gegnern auf dem Eis beschrieben. «Nicht nach- und erst recht nicht aufgeben. Weder im Sport noch im Leben. Das wollen wir den nächsten Generationen weitergeben», betont Ambris Trainer Luca Cereda, der im neuen Stadion zusammen mit dem ebenfalls einheimischen Sportchef Paolo Duca die fünfte Saison bei seinem Stammklub in Angriff nehmen wird.
Der Komfort für die Fans wird in der neuen Gotthard-Arena grösser sein, da der Anteil der Sitzplätze zwei Drittel der Fassungskapazität von 6775 Fans (die Nummer ist auch Ambris Postleitzahl) betragen wird. «Die Geschichte wird nicht von Mauern geschrieben, sondern von Menschen. Und diese werden uns begleiten und den alten ‹Valascia-Geist› mitnehmen», hofft Ambris Präsident Filippo Lombardi gegenüber «blue News». Er ist sich sicher, dass Ambris Team mithilfe der Fans auch in neuer Umgebung mit Wille, Leidenschaft und Unnachgiebigkeit auftreten wird.
Lombardi betont, dass in seiner Amtszeit (seit 2009) die zwei Heimsiege zur jeweiligen Sicherung des Klassenerhalts in Ligaqualifikationen gegen Visp und Langenthal die grössten Emotionen bei den Fans im Stadion und im Umfeld ausgelöst hätten. «Wir wissen deshalb, woher wir kommen», so Lombardi.
Es gab indes auch zahlreiche unvergessliche Momente auf höherem Level, Dramen und Figuren, welche die Geschichte der Valascia und damit den Mythos von Ambri-Piotta prägten. Sportlich gesehen ragte der Triumph im europäischen Super Cup im Sommer 1999 heraus. Damals setzte sich Ambri als Continental-Cup-Champion gegen den europäischen Meistercup-Gewinner Metallurg Magnitogorsk mit 2:0 durch.
Auch Ambris einzige Playoff-Finalserie endete an einem Ostermontag
Unvergessen bleibt auch Ambris einzige Playoff-Finalserie, die man 1999 gegen den Kantons- und Erzrivalen Lugano mit 1:4 verlor – auch damals endete die Saison an einem Ostermontag. Gegen Lugano verlor Ambri 2006 eine Playoff-Viertelfinalserie nach 3:0-Führung noch, nachdem der damals für Ambri stürmende Hnat Domenichelli (heute General Manager bei Lugano) in Spiel 4 in Ambri den Matchpuck und damit das Weiterkommen versiebte. Eine Playoff-Viertelfinal-Partie zwischen Ambri-Piotta und Fribourg-Gottéron (mit den legendären Slawa Bykow und Andrej Chomutow) endete 1989 nach spektakulärem Verlauf und eines nicht mehr anerkannten Tores von Ambris Mike Bullard mit der Schlusssirene mit 8:9.
Auch Dale McCourt, der Kanadier mit indianischer Abstammung, der seine zahlreichen Tore nicht bejubelte, oder Oleg Petrow, der filigrane russische Wirbelwind, oder der bei Ambri-Piotta zum Liga-Topskorer gereifte und heute in der NHL für Chicago erfolgreiche Dominik Kubalik, hinterliessen in der Valascia ihre Spuren. Mit Verteidiger Michael Fora verfügt Ambri-Piotta gar über ein Eigengewächs, das es zum WM-Silbermedaillengewinner mit der Schweizer Nationalmannschaft brachte. Erstaunlich für einen Verein, der als Klub als grösster Anarchismus im Schweizer Sport gilt. Ein Verein, der wohl kaum je wieder eine Playoff-Finalserie erreichen wird, aber als «Meister der Herzen» über einen unaustauschbaren Platz im Zentrum der Schweizer Hockey-Seele verfügt. «Jeder Fan eines anderen Klubs sympathisiert in zweiter Linie mit Ambri-Piotta», ist Lombardi überzeugt.
Mit Goalie Leonardo Genoni vom EV Zug bestätigt diese Version gar ein Spieler aus gegnerischen Reihen. Der beste Schweizer Keeper der letzten Jahre sagt: «Die ganze Familie Genoni ist eigentlich wegen Ambri Eishockey-Fan. Noch heute kann ich von damals alle Lieder auswendig. Mit Bern wurde ich einmal in der Valascia eingewechselt nach etwa 50 Minuten. Dies, nachdem mir auf der Bank schon drei Zehen ‹abgefroren› waren. Aber das hat dazu gehört.»