Die Erfolgsstory von Union Berlin hat ihren ersten Schönheitsfleck: Das Team von Urs Fischer hat die letzten acht Pflichtspiele verloren. Vor dem Champions-League-Duell gegen Napoli spricht Union-Captain Christopher Trimmel mit blue Sport über die sportliche Krise und den Schweizer Trainer.
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
- Union Berlin befindet sich in einer Ergebniskrise: Die letzten acht Spiele gingen allesamt verloren.
- Trainer Urs Fischer geniesst aber nach wie vor hohes Ansehen im Verein, wie auch Union-Captain Christopher Trimmel im Interview mit blue Sport sagt.
- Der 36-jährige Österreicher spricht auch über Fischers direkte Art, die neuen Stars bei Union und das bevorstehende Champions-League-Duell gegen Napoli (Dienstag, 21 Uhr live auf blue Sport).
Christopher Trimmel, einerseits befindet ihr euch in der erfolgreichsten Zeit der Vereinsgeschichte. Andererseits seid ihr zurzeit auch erfolglos unterwegs. Lebt ihr aktuell den schönsten Traum, den man als Union-Spieler erleben kann, oder den schlimmsten Albtraum?
(lacht) Nein, es ist schon noch schön, für Union Berlin Fussball zu spielen. In unserem Kader gibt es nur eine Handvoll Spieler, die schon mal in der Champions League gespielt haben. Das ist der Traum jedes Fussballers, also leben wir den noch immer – zumindest bis im Winter. Natürlich ist es jetzt eine schlechte Phase, für mich ist es aber auch keine Überraschung.
Warum?
Fünf Jahre ging es nur bergauf. Irgendwann kommt so eine Phase. Wir wissen alle, dass wir da rauskommen werden – hoffentlich. Intern sind wir ruhig und arbeiten daran.
Union hat in den letzten fünf Jahren eine phänomenale Entwicklung hingelegt. Sie haben alles mitgemacht. Von der 2. Bundesliga bis in die Champions League. Haben Sie sich jemals erträumen lassen, eines Tages mit Union in der Königsklasse aufzulaufen?
Natürlich nicht (lacht). Das grosse Ziel war der Aufstieg. Das hatten wir geschafft. Dann ging es nur um den Klassenerhalt. In den Medien hiess es dann: «Jetzt haben sie sich gerettet, nächstes Jahr sind sie dran.»
Stattdessen habt ihr es in die Conference League geschafft.
Und dann hiess es: «Jetzt kommt die Doppelbelastung, jetzt steigen sie ab.» So ging es halt immer weiter. Aber wir haben uns entwickelt und an unseren Schwächen gearbeitet. Dass es so gekommen ist ... das ist, glaube ich, einzigartig im Fussball. Wir haben von vielen Dingen profitiert. Auch von Schwächephasen der anderen Teams. Wir sind nicht so arrogant und sagen: «Wir gehören ganz klar da oben hin.»
Ihr spielt eure Spiele in der Champions League nicht im eigenen Stadion An der Alten Försterei, sondern ausgerechnet im Olympiastadion. Im Zuhause von Hertha BSC, dem Stadtrivalen, der in der 2. Bundesliga spielt. Was macht das für einen Unterschied?
Für mich persönlich macht das einen grossen Unterschied. An der Alten Försterei ist unser Zuhause, unser Wohnzimmer. Ich glaube, dass sich der Gegner da auch nicht wohlfühlt. In der Conference League haben wir auch schon im Olympiastadion gespielt, aber es ist einfach nicht unser Zuhause. Das ist auch für die Fans eine Herausforderung. Wir wussten nicht, ob wir jetzt wirklich die Unioner im Stadion haben. Was, wenn wir gegen Real nach einer halben Stunde 0:3 hinten liegen? Gehen die Leute dann nach Hause? Solche Fragen stellt man sich. Aber ändern können wir es eh nicht.
Beim ersten «Heimspiel» in der Champions League gegen Braga gab es eine 2:3-Niederlage. Wie hat sich das Spiel angefühlt?
Die Stimmung war echt gut, da war ich schon positiv überrascht. Das haben die Fans wieder überragend hinbekommen. Klar haben wir unglücklich noch verloren, aber wir werden unsere Punkte in der Champions League schon noch holen. Wir müssen einfach wieder in die Erfolgsspur finden.
Auch wenn die Ergebnisse bislang nicht stimmten, habt ihr starke Spiele gezeigt. Vor allem das erste gegen Real Madrid, wo erst ganz spät das 1:0 fiel. Was macht Union aktuell so grosse Probleme?
Die letzten Jahre war unsere grosse Stärke, kompakt zu sein, zu verteidigen, unangenehm zu sein, clever und auch eklig. Wir haben wenig zugelassen und aus unseren wenigen Chancen viel gemacht. Jetzt ist es oft so, dass wir mega viele Torchancen haben, aber auch sehr viel zulassen. Diese Harmonie stimmt aktuell nicht. Wir sind teilweise zu offen. Natürlich ist es gut, wenn wir viele Torchancen haben, aber wir waren nie eine Mannschaft, welche die Spiele 5:4 gewinnt, sondern 1:0 oder 2:1. Daran müssen wir arbeiten.
Liegt es an den vielen Neuzugängen, dass es mit der Harmonie nicht mehr ganz passt?
Natürlich haben wir mit elf Neuzugängen wieder einen Riesenumbruch gehabt. Aber das konnten wir in den letzten Jahren auch kompensieren. Wir hatten in dieser schwierigen Phase auch gute Spiele, nicht nur in der Champions League. In Heidenheim oder Wolfsburg hätten wir gewinnen können, am Ende haben wir sie verloren. Am Ende waren es individuelle Fehler, die zu Gegentoren geführt haben. Wir fokussieren uns jetzt darauf, uns auf unseren Fussball zu konzentrieren und nicht zu offen zu spielen.
Unter diesen elf Neuzugängen waren auch drei grosse Namen dabei: Kevin Volland, Robin Gossens und vor allem auch Leonardo Bonucci. Bei Union ist normalerweise die Mannschaft der Star. Hat sich das Mannschaftsgefüge durch den Transfer eines Bonucci verändert?
Nein, gar nicht. Leo ist mega bodenständig – wie die anderen beiden auch. Er quatscht auch mit den jungen Spielern und ist ein sehr positiver Typ. Für ihn ist es die erste Auslandsstation, seine Familie ist in Italien, er ist alleine da, was für ihn auch nicht so einfach ist. Man kann von ihm nicht erwarten, dass er jetzt alleine das Ruder umreisst. Da sind schon eher die Spieler gefordert, die schon länger da sind. Und da nehme ich mich genauso in die Pflicht.
Sie sind ein prägendes Gesicht von Union Berlin, haben alles miterlebt. Genauso wie Trainer Urs Fischer. Wie muss man sich ihn als Typen vorstellen und wie geht er mit dieser ungewohnten Krise um?
Er ist ein Typ, der sehr viel einfordert. Man muss sehr diszipliniert arbeiten. Er gibt aber jedem Einzelnen das Gefühl, dass er ihn entwickeln möchte. Egal ob das jetzt der U19-Spieler ist oder der Captain. Er behandelt jeden gleich, macht mit jedem Spieler Videoanalysen, möchte jeden weiterentwickeln, jeden besser machen. Das Team ist ihm sehr wichtig. Er hat schon ein sehr gutes Gefühl, wie so eine Mannschaft tickt.
Woher kommt das?
Man merkt, dass er selbst sehr lange aktiver Fussballer war. Bevor Dinge entstehen, bemerkt er sie, beordert uns ins Büro und spricht uns darauf an. Das macht er echt gut. Auch in dieser Krise wird er nicht in Aktionismus verfallen und die Dinge komplett über den Haufen werfen, sondern arbeitet genauso weiter, wenn nicht noch disziplinierter, und fordert die Dinge noch klarer ein. Das macht ja auch einen guten Trainer aus, dass er da nicht verrückt wird und das System fünfmal ändert und den Goalie wechselt. Jetzt sind nur wir Spieler gefragt.
Am Wochenende habt ihr zum achten Mal in Folge verloren. Wie viele Rückschläge kann Urs Fischer noch einstecken?
Viele! Er ist schon ein Typ, der sehr viel einstecken kann. Ich glaube, der Verein, und auch wir Spieler, wissen ganz genau, was wir an ihm haben. Wir haben zuletzt ja auch viele Dinge richtig gemacht. Man kann uns in keinem einzigen Spiel vorwerfen, dass wir nicht alles gegeben haben. Das zeigen auch die Statistiken, wie viel wir beispielsweise gelaufen sind.
Ihr habt auch mehr Ballbesitz und mehr Torabschlüsse als letzte Saison. Am Ende ist es aber nicht erfolgreich.
Genau. Es sind kleine Dinge, die den Unterschied ausmachen. Aktuell haben wir einfach keine perfekt eingespielte Mannschaft. Daran müssen wir arbeiten. Aber wir sind kein Team, das sich hinsetzt und sagt: «Wir sind die Armen, jetzt haben die anderen schon wieder durch ein Traumtor gewonnen. Wir können ja nichts dafür.» Das sehen wir komplett anders. Und das macht auch Urs Fischer gut. Er spricht die Dinge ganz klar und sagt, dass wir selber schuld sind. Das finde ich gut.
Wie kann man sich eine Ansprache von Urs Fischer vorstellen?
Sehr konstruktiv und deutlich. Da wird ganz klar analysiert. Es ist eigentlich immer das Gleiche. Es werden viele Videosequenzen gezeigt. Hauptsächlich liegt der Fokus auf den Dingen, die nicht so ideal waren, damit wir uns verbessern können. Er macht auch sehr viel individuell mit den Spielern zusätzlich.
Die Mentalität spielt im Fussball eine wichtige Rolle. Wie kriegt Urs Fischer euch aus diesem Loch raus?
Das Einfachste wäre, ein Erfolgserlebnis zu erzielen. Aber man versucht natürlich viel miteinander zu sprechen. Jeder ärgert sich und hinterfragt ein paar Dinge. Ob er wirklich alles gegeben hat oder was man noch verbessern kann. Wir Führungsspieler und das Trainerteam versuchen, die ganzen Faktoren um so ein Spiel herum zu verbessern, damit kein Spieler eine Ausrede hat. Der Flug war anstrengend, das Hotelbett war ungemütlich, deswegen haben wir verloren – nein, das wollen wir weg haben. Wir wollen uns nur auf Fussball konzentrieren.
Wie sieht jetzt der Plan aus?
Ich glaube, wir versuchen wieder ein bisschen Union-like zu werden. Die einfachen Dinge, die Basics, die Grundtugenden auf den Platz zu kriegen. Und das ist in erster Linie eben kompakt zu sein, gut zu verteidigen, wenig zuzulassen.
Im nächsten Spiel wartet Napoli. Jetzt habt ihr mit Bonucci einen Italiener in der Mannschaft, der euch ein paar Tipps geben kann.
Natürlich, aber ich glaube, der eine oder andere kennt die Mannschaft schon ganz gut – gerade nach der starken letzten Saison. Man versucht natürlich, den Gegner gut zu analysieren und am Ende wird uns Leo auch noch den einen oder anderen Tipp geben. Wir spielen zu Hause, aber wir versuchen natürlich das Spiel so anzugehen, dass sie keine Freude daran haben.
Di 24.10. 19:55 - 00:00 ∙ blue Sport Live ∙ Live Fussball: 1. FC Union Berlin - SSC Napoli
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Warum wird euch gerade gegen Napoli der Befreiungsschlag – und das erste Erfolgserlebnis in der Champions League – gelingen?
Weil wir speziell die letzten Wochen sehr gut gearbeitet haben. Wir sind sehr motiviert, um endlich mal Punkte zu holen in der Champions League. Wir spielen zwar im Olympiastadion, aber mit sehr vielen Union-Fans. Auch viele Italiener werden da sein. Es wird Spass machen, das wird ein super Spiel. Bei uns ist es nur eine Frage der Zeit, bis wir wieder ein Erfolgserlebnis haben. Ich bin guter Dinge, dass es gegen Napoli klappt.
Union Berlin. Urs Fischer. Christopher Trimmel. Wie lange wird es dieses Liebesdreieck noch geben?
Ich hoffe, sehr, sehr lange (lacht). Aber ich kenne den Fussball gut genug. Urs ist jetzt schon im sechsten Jahr, ich im zehnten. Das ist schon sehr viel und aussergewöhnlich, aber Fussball ist verrückt. Am Ende sind es mehrere Faktoren. Der Erfolg gehört natürlich dazu. Als Spieler musst du viel auf dem Platz stehen, der Trainer muss erfolgreich sein. Wenn beides nicht stimmt, werden beide irgendwann mal unzufrieden sein. Wir zwei haben jedenfalls noch viel vor in dieser Saison und genügend Arbeit vor uns.
Kann man sich Union Berlin ohne Urs Fischer überhaupt vorstellen?
Aktuell nicht. Er hat nach wie vor ein Mega-Standing. Wenn der Stadion-Speaker die Mannschaft vorstellt, ist es bei seinem Namen immer am lautesten. Er ist der Trainer, der den Klub in die Bundesliga und nach Europa gebracht hat. Er ist der Chef und der Kopf, gemeinsam mit Geschäftsführer Oliver Ruhnert. Fischer hat sich den Applaus und die Anerkennung absolut verdient. Da wünscht man sich auch für ihn, dass wir schnell wieder in die Spur finden und sich alles wieder beruhigt.
Wenn man die letzten Jahre von Union Berlin mit einem Filmtitel beschreiben müsste, welcher wäre das?
Apollo 11, die erste Mondlandung. Es war ja wirklich etwas Unmögliches, nichts Greifbares, dass ein Verein aus der 2. Liga nach fünf Jahren in der Champions League spielt.
Wie beschreiben Sie die letzten Wochen?
Drama pur. Es waren schon viele unglückliche Niederlagen dabei. Aber ich liebe den Fussball auch dafür. Am Ende geht es darum, Punkte zu holen und wir sind jetzt an der Stelle, wo wir Punkte brauchen.
Und wie blicken Sie in die Zukunft?
Unser Ziel ist es immer noch, international zu überwintern. Heisst: Mindestens Platz 3 in der Gruppenphase. Und in der Liga, da muss man auch ehrlich sein, geht es um den Klassenerhalt.