Neue Welle in EnglandSo gefährlich ist die Delta-Variante wirklich
uri/dpa/AFP
9.6.2021
Die aus Indien stammende Variante des Coronavirus – Delta: B.1.617.2 – ist in Grossbritannien rasant auf dem Vormarsch. Experten befürchten eine neue Welle. Wie häufig ist sie derzeit in der Schweiz? Und wie gefährlich ist sie tatsächlich? Der aktuelle Kenntnisstand im Überblick.
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09.06.2021, 06:45
09.06.2021, 08:59
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In zwei Wochen will England zurück in die Normalität. Dann sollen fast alle Corona-Massnahmen aufgehoben werden. Allerdings könnte das Coronavirus den Briten einen Strich durch die Rechnung machen. Experten warnen bereits eindringlich vor einer verfrühten Lockerung in Anbetracht der steil steigenden Fallzahlen mit der sogenannten Delta-Variante.
Angesichts der guten Impfrate in Grossbritannien – derzeit sind rund 60 Prozent der Bevölkerung einmal geimpft und 40 Prozent besitzen bereits einen vollen Impfschutz – hält die Regierung bislang weiter an ihrem Plan fest, zum 21. Juni alle Massnahmen aufzuheben. «Ganz zurück zur Normalität zurückkehren, ist sicher nicht im allgemeinen Interesse», kritisierte allerdings der Immunologe Ravindra Gupta von der Universität Cambridge in der BBC. Der Grund für die Skepsis des Fachmanns liegt im deutlichen Anstieg der Fälle, die auf die Delta-Variante des Coronavirus zurückzuführen sind.
Die ursprünglich als B.1.617.2 bezeichnete Unterform der Mutante B.1.617 des Coronavirus war erstmalig in Indien festgestellt worden. In Grossbritannien registrierte man sie zum ersten Mal am 22. März – seither hat sie bereits die in Grossbritannien entstandene hochansteckende Alpha-Variante (B.1.1.7) verdrängt. Seit Anfang April verdoppeln sich die Fallzahlen mit der Delta-Variante bereits alle acht Tage.
Beim Chef der unabhängigen Expertengruppe Independent Sage, David King, gingen bereits die Alarmglocken an: «Das ist der Beweis dafür, dass eine weitere Welle auf uns zukommt», meinte er im Sender Sky News. Auch Experte Gupta warnte, dass das Virus weiterhin mutiere. Zudem werde es «besser darin, unsere Abwehr zu umgehen». Die von der Weltgesundheitsorganisation WHO als «besorgniserregend» eingestufte Mutante ist auch längst in der Schweiz angekommen. Die wichtigsten Fragen und Antworten dazu.
Wie schnell verbreitet sich die Mutante?
Dass die Delta-Variante bedeutend ansteckender als der Wildtyp des Coronavirus und auch andere Varianten sein dürfte, wurde schon länger vermutet. Am vergangenen Sonntag nannte der britische Gesundheitsminister Matt Hancock gegenüber der BBC eine konkrete Zahl. Der «Wachstumsvorteil» der Variante gegenüber der Alpha-Variante liege nach Erkenntnissen des Expertengremiums Sage bei rund 40 Prozent, so Hancock. Eine indische Preprint-Studie von Anfang Juni kommt sogar zu dem Schluss, dass die Übertragbarkeit um 50 Prozent höher sei als bei der britischen Variante.
Wie das Fachjournal «The British Medical Journal» in einem Bericht von Anfang Juni schreibt, gibt es in England zudem «wachsende Sorgen», dass sich die Variante vor allem unter Schülern ausbreitet, da es mehrere schwere Ausbrüche an Schulen gab.
Was ist der Grund für die höhere Infektiosität?
Der Grund für eine höhere Ansteckungsfähigkeit der Delta-Variante ist noch nicht endgültig gefunden. Bekannt ist indes, dass die Variante gleich mehrere Mutationen aufweist. Zwei relevante Mutationen betreffen dabei das sogenannte Spike-Protein, mit dem das Virus an die Zellen andockt. Sie werden auch mit der höheren Infektiosität in Verbindung gebracht. Gemäss britischen und deutschen Laborversuchen gibt es zudem Indizien, dass sich der Erreger besser in den Atemwegen vermehren und leichter in Darm- und Lungenzellen eindringen kann als andere Varianten.
Wie gefährlich ist B.1.617.2?
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat die Delta-Variante bereits als «besorgniserregend» eingestuft. Sie gilt damit als Mutante, die sich leichter ausbreitet, womöglich schwerere Krankheiten verursacht, dem Immunsystem entgeht, das klinische Erscheinungsbild verändert oder die Wirksamkeit der bekannten Instrumente verringert.
In einer neuen Risikoeinschätzung von Public Health England heisst es zudem: «Erste Erkenntnisse aus England und Schottland legen nahe, dass es ein erhöhtes Risiko für Spitaleinlieferungen geben könnte als bei der Alpha-Variante.» Zudem zeigten einige Regionen einen Anstieg von Einlieferungen in die Kliniken. Der nationale Trend lasse sich jedoch noch nicht abschätzen, so die Behörde.
Welche Spur zeigt die Variante in der Schweiz?
Laut dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) wurde die indische Variante B.1.617 in der Schweiz erstmals in einer Probe von Ende März registriert. Eine Person aus dem Kanton Solothurn, die über einen Schweizer Transitflughafen eingereist war, hatte sich demnach infiziert. Nach den Daten der Behörde spielt die Variante für das Infektionsgeschehen in der Schweiz bislang allerdings noch eine untergeordnete Rolle. Im Meldesystem wurde sie bis zum 8. Juni 15-mal registriert, bei der Überwachung durch Genomsequenzierungen zufälliger Proben 74-mal. Der Anteil der Variante im 7-Tage-Schnitt liegt bei 1,6 Prozent.
Vor rund drei Wochen sah Virginie Masserey, Leiterin Sektion Infektionskontrolle beim Bundesamt für Gesundheit, keinen Grund für grosse Sorge hinsichtlich der Entwicklung von B.1.1.7.1. «Die Anzahl entdeckter Fälle ist tief», sagte sie damals bei der Pressekonferenz der Fachleute des Bundes.
Beim Point de Presse am 8. Juni meinte Masserey, insgesamt stehe Schweiz im internationalen Vergleich gut dar. Wie im Ausland würden auch hier die Fälle sinken. Sie gab jedoch auch zu bedenken, dass gerade Grossbritannien eine Ausnahme bilde – und zwar wegen der Delta-Variante. Um die Verbreitung von Varianten hierzulande generell zu vermeiden, sei es notwendig, dass sich weitere Bürger impfen liessen, mahnte die Expertin.
Wie gut schützen gängige Impfstoffe gegen Delta?
Die gängigen Impfungen sind nach derzeitigem Stand auch wirksam gegen die Delta-Mutante – allerdings auch weniger effizient. Laut Daten von Public Health England liegt der Impfschutz nach einer Dosis von mRNA- oder Vektorimpfstoffen bei 34 Prozent – und damit deutlich unterhalb der 51-prozentigen Wirkung, etwa bei der B.1.1.7-Variante.
Auch nach einer vollständigen Impfung liegt der entsprechende Schutz beim mRNA Impfstoff mit 88 Prozent demnach noch etwas unterhalb der 93 Prozent, die bei der Alpha-Variante erreicht werde. Ebenfalls war der in Grossbritannien verwendete Vektorimpfstoff von Astrazeneca nach zwei Dosen weniger wirksam – und zwar um 6 Prozent.
Wer bereits vollständig gegen das Coronavirus geimpft ist, sei nach derzeitigem Erkenntnisstand auch gegen die Delta-Variante geschützt, meinte am Wochenende denn auch der britische Gesundheitsminister Hancock. Allerdings räumte er gegenüber der BBC auch ein, die Variante erschwere es, Vorhersagen für die geplante Öffnung am 21. Juni zu machen: «Wir werden uns die Daten für eine weitere Woche ansehen und dann eine Entscheidung fällen.» Die Regierung sei «absolut offen» dafür, die Lockerungen zu verschieben.