Corona-Ausbruch Die indische Katastrophe – die auch die Welt bedroht

tsha

27.4.2021

Nicht nur die Doppelmutante macht Sorgen: In Indien ist Covid-19 völlig ausser Kontrolle geraten. Ärzte flehen um Sauerstoff, den Krematorien fehlt Holz. Die Schweiz überlegt, wie sie dem Land helfen kann.

tsha

Nach einigem Zögern machte das Bundesamt für Gesundheit (BAG) am Montag Nägel mit Köpfen: Wer aus Indien in die Schweiz einreist, muss ab sofort für mindestens sieben Tage in Quarantäne. Zusammen mit anderen Ländern wurde Indien auf die BAG-Liste der Coronavirus-Risikoländer aufgenommen. Grund dafür ist offenbar, dass in dem Land mit seinen 1,3 Milliarden Einwohnern die Krise ausser Kontrolle gerät.

Die Lage in Indien ist dramatisch: Die Infektionszahlen, die das Land seit Tagen meldet, sind die höchsten weltweit. Am Montag wurden 350'000 neue Ansteckungen innert 24 Stunden gemeldet, am Dienstag waren es 320'000 neue Fälle. Wobei die Zahlen nur einen Teil der traurigen Realität in Indien abbilden dürften – in Wirklichkeit, so vermuten Experten, dürfte es weitaus mehr Infektionen geben, die aber nicht von Tests und damit auch nicht von den offiziellen Statistiken erfasst werden.



Derweil zeigt sich in den indischen Grossstädten tagtäglich, was es heisst, wenn die Pandemie ausser Kontrolle geraten ist. «Die Patienten sterben vor meinen Augen», erzählte Pater P. A. George, Leiter des Holy Family Hospital in Neu-Delhi, dem «Catholic News Service». «Es ist schrecklich, eine Katastrophe jenseits aller Vorstellungskraft.»

Das indische Gesundheitswesen gilt seit jeher als schwach, in der Pandemie ist es nun an seine Grenzen gestossen. Es gibt nicht genug Intensivbetten für alle Corona-Patienten, auch an Sauerstoff und Beatmungsgeräten mangelt es. Man müsse, so der Leiter eines Hospitals im Bundesstaat Gujarat, jeden Tag 600 Patienten abweisen. 

In der Stadt Gauhati wird ein Corona-Opfer beerdigt: In Indien wurden zuletzt so viele Infektionen wie nirgendwo sonst gemeldet.
In der Stadt Gauhati wird ein Corona-Opfer beerdigt: In Indien wurden zuletzt so viele Infektionen wie nirgendwo sonst gemeldet.
Bild: Keystone

Gefährliche Doppelmutante

In der Folge steigt auch die Zahl der Todesfälle dramatisch an. In der vergangenen Woche starben täglich mehr als 2000 Menschen in Zusammenhang mit einer Corona-Infektion, in nur einem Monat könnte die Zahl mehr als doppelt so hoch liegen, warnte der Epidemiologe Bhramar Mukherjee im Gespräch mit dem Magazin «The Atlantic».

Dabei schien es vor ein paar Wochen noch so, als sei Indien glimpflich durch die Krise gekommen. Die Infektionszahlen waren relativ niedrig, und weil die indische Bevölkerung jung ist, starben auch weniger Menschen als anderswo an dem Virus.

Doch genau diese Entwicklung scheint Indien  zum Verhängnis geworden zu sein. Denn die niedrigen Zahlen führten zu einer weitgehenden Sorglosigkeit, die sich nun rächt. Auf Grossanlässen, etwa religiösen Festen und Wahlkampfveranstaltungen, kamen Hunderttausende zusammen – leichtes Spiel für ein Virus.



Hinzu kommt, dass sich in Indien schon länger eine neue Variante des Virus mit Doppel-Mutation verbreitet. Doppelt deshalb, weil die Variante mehrere Mutationen aufweist, von denen die eine dem Virus helfen könnte, dem Immunsystem des menschlichen Körpers zu entkommen, während die andere es ansteckender machen könnte. Das zumindest geht aus ersten Studien hervor.

Gefährliche Mischung

Zusammen mit der Sorglosigkeit der letzten Monate ist in Indien so eine gefährliche Gemengelage entstanden – die auch ausserhalb des Landes Sorgen bereitet. So ist die Doppelmutante B.1.617 laut BAG bereits in der vergangenen Woche erstmals in der Schweiz nachgewiesen worden, bei einem Passagier, der über einen Transitflughafen eingereist war. Auch in anderen Ländern, darunter die USA, wurden Infektionen mit B.1.617 gemeldet. 

Und noch etwas macht Politikern und Wissenschaftlern weltweit Sorgen: Die neue Corona-Welle in Indien hat dafür gesorgt, dass die Nachfrage nach Impfstoffen im Land rasant angestiegen ist. Derzeit werden in Indien rund drei Millionen Dosen jeden Tag gespritzt – viel zu wenig, so Experten, um die Bevölkerung zu immunisieren. Deshalb ist Indien, eigentlich die «Apotheke der Welt», dazu übergegangen, Impfstoffe zu importieren.



Indien produziert rund 60 Prozent der weltweiten Vakzine und sollte deshalb auch Corona-Impfstoffe für den Export herstellen, etwa für die Covax-Initiative, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, ärmere Staaten mit Impfstoffen zu versorgen. Eine Aufgabe, der etwa das Serum Institute in Pune, das den Impfstoff von AstraZeneca herstellt, derzeit aufgrund des hohen Eigenbedarfs nicht nachkommen kann.

Mehrere Länder haben Indien unterdessen Hilfen zugesagt. Die Schweiz, so erklärt ein EDA-Sprecher auf Anfrage von «blue News», «klärt zurzeit ab, in welcher Form und welchem Umfang ein Hilfsangebot zur Verfügung gestellt werden könnte». Man sei «sehr besorgt über die Belastung, die die neuen Höchstwerte an Ansteckungen für das indische Gesundheitssystem darstellen» und stehe mit den indischen Behörden in Kontakt.

Andere Länder sind schon einen Schritt weiter: Die deutsche Regierung kündigte an, das Land mit Sauerstoff und Medikamenten unterstützen zu wollen, die USA wollen unter anderem Beatmungsgeräte und Schutzausrüstung zur Verfügung stellen.