Fragen und Antworten Wird die Vogelgrippe zur nächsten Pandemie?

toko

15.7.2024 - 04:30

Das Vogelgrippevirus grassiert seit Jahrzehnten unter Vögeln. Zunehmendes Übergreifen auf Rinder bereitet Fachleuten nun Sorgen. 
Das Vogelgrippevirus grassiert seit Jahrzehnten unter Vögeln. Zunehmendes Übergreifen auf Rinder bereitet Fachleuten nun Sorgen. 
Bild: Keystone/dpa/Patrick Pleu

Schon lange grassiert die Vogelgrippe unter Vögeln. Rinder liess sie bisher verschont – bis jetzt. Wie gross ist die Gefahr für Menschen? Und steht die nächste Pandemie vor der Tür? Antworten auf die wichtigsten Fragen.

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Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Die seit Jahrzehnten grassierende Vogelgrippe infiziert seit einiger Zeit auch Rinder.
  • Dies schürt unter Experten die Sorge auch vor einem Übergreifen auf den Menschen – und womöglich einer neuen Pandemie.
  • Vier Fälle bei Menschen wurden laut CDC im Kontext des Ausbruchs in US-Milchviehhaltungen bisher erfasst.
  • Im Fall einer Vogelgrippe-Pandemie könnten Impfstoffe für Menschen nach Einschätzung eines Experten rasch zur Verfügung stehen.

In den USA steigt die Zahl der mit Vogelgrippe infizierten Rinder. Mehr als 130 erfasste H5N1-Infektionen in einem Dutzend US-Bundesstaaten gibt es nach Angaben der US-Gesundheitsbehörde CDC inzwischen. Diese Entwicklung bereitet Fachleuten zunehmend Sorgen. Die Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Um was für ein Virus geht es?

H5N1 ist ein Influenza-A-Virus wie die beim Menschen kursierenden Erreger der saisonalen Grippe. H und N bezeichnen zwei Eiweisse der Virushülle: Hämagglutinin und Neuraminidase. Sie kommen jeweils in verschiedenen Subtypen vor (beim Vogel H1 bis H16 und N1 bis N9). Der Name H5N1 bedeutet also die Kombination der Eiweisse H5 und N1 auf der Oberfläche der Variante.

Wieso sprechen derzeit alle über die Vogelgrippe?

Das Virus H5N1 befällt seit Jahrzehnten verstärkt Vögel – zunächst in Asien, inzwischen nahezu weltweit. Auch Säugetiere erkrankten daran. Seit einigen Jahren breitet sich eine besondere Gruppe von H5N1-Viren aus, die sogenannte Klade 2.3.4.4b, mit der sich in den USA auch zahlreiche Rinder angesteckt haben.

Rinder mit H5N1-Infektion gab es bislang nicht. Wie die Übertragung vom Wildvogel auf eine Kuh ablief, ist noch unklar. Sicher ist, dass sich inzwischen auch Menschen bei den Rindern angesteckt haben. Vier Fälle wurden laut der US-Gesundheitsbehörde CDC bis Mitte des Jahres im Kontext des Ausbruchs in US-Milchviehhaltungen erfasst.

Können sich Menschen bei Rindern anstecken?

Vier Fälle bei Menschen wurden laut CDC im Kontext des Ausbruchs in US-Milchviehhaltungen bisher erfasst. Jedes Mal sei eine Bindehautentzündung eines der Symptome gewesen, erklärt der Vizepräsident des Friedrich-Loeffler-Instituts (FLI), Martin Beer. «Der Mensch hat die Vogelgrippe-Rezeptoren im Auge.» Fasst sich ein Arbeiter zum Beispiel beim Melken ans Auge, kann der Erreger andocken.

Pasteurisierte Milch gilt als unbedenklich, wie gerade eine im «Journal of Virology» vorgestellte Studie bestätigte. In 20 Prozent der etwa 300 untersuchten pasteurisierten Milchprodukte aus 132 US-Verarbeitungsbetrieben wurden demnach nicht-infektiöse Spuren des viralen Erbguts gefunden, infektiöses Virus in keinem einzigen Fall.

Eine Infektion über Rohmilch gilt hingegen als möglich. Farm-Katzen haben sich in den vergangenen Monaten schon häufig über aufgeschleckte Rohmilch angesteckt. In zahlreichen der erfassten Fälle starben sie, wie Beer sagt. «Das Virus infiziert bei ihnen meist auch das Gehirn.» Ganz neu sei diese Erkenntnis nicht: Auch in Polen und Südkorea habe es schon Vogelgrippe-Ausbrüche bei Katzen gegeben – immer über kontaminierte Nahrung, bisher nicht von Katze zu Katze.

Anders ist das bei bestimmten Meeressäugern sowie für die Pelztierzucht gehaltenen Arten wie Nerz und Polarfuchs. Für Meeressäuger gelten Übertragungen zwischen Artgenossen als hoch wahrscheinlich, bei Tieren in Pelztierfarmen als weitgehend gesichert, wie Beer sagt.

Auch bei ihnen stehen neurologische Symptome, also Hirnschäden, im Vordergrund. Der Anteil tödlich erkrankter Tiere ist hoch. «Bei den sehr seltenen Fällen beim Menschen gibt es solche neurologischen Symptome nicht, sondern eher die für eine Grippe klassischen Atemwegsprobleme.»

Wie gefährlich wäre eine Infektion für Menschen?

Das menschliche Immunsystem würde bei einem Kontakt mit dem Virus dank früherer Infektionen und Impfungen gegen andere Grippeformen nicht bei null anfangen. Darauf deuten frühere Forschungsarbeiten hin, wie es in einem Artikel im Magazin «Nature» heisst.

Das würde den Angaben zufolge aber wahrscheinlich nicht verhindern, dass H5N1 im Fall einer Pandemie der Weltgesundheit schweren Schaden zufügen könnte. Eine Infektion mit saisonalen Grippeviren bietet laut «Nature» nur einen begrenzten Schutz gegen die neuen Grippestämme, die sich genetisch von ihnen unterscheiden.

Im Falle einer H5N1-Pandemie könnten ältere Menschen dem Artikel zufolge möglicherweise besser geschützt sein als jüngere, weil sie in ihrer Kindheit wahrscheinlich mit ähnlichen Grippestämmen in Kontakt kamen. Das habe sich schon bei vorherigen Wellen gezeigt, etwa der Schweinegrippe.

Ist die nächste Pandemie im Anmarsch?

Konkrete Anzeichen dafür gibt es zwar nicht, dennoch haben führende Experten Sorgen geäussert. So macht etwa der Chef-Virologe der Berliner Charité, Christian Drosten, angesichts der Ausbreitung von H5N1 in den USA das Vogelgrippevirus als möglichen Auslöser für eine kommende Pandemie aus.

Der Erreger sei letzter Zeit in Milchviehbeständen in den USA aufgetreten und dort «sogar schon in Milchprodukten im Handel aufgetaucht», sagte Drosten dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. «So etwas hat es vorher noch nicht gegeben, solche extrem grossen Ausbrüche bei Kühen – alle Fachleute sind besorgt.»

Vogelgrippe bei Rindern – wie schlimm wird es? (Archivbild)
Vogelgrippe bei Rindern – wie schlimm wird es? (Archivbild)
Bild: Keystone/dpa/Oliver Berg

Die Ausbreitung der Vogelgrippe unter Säugetieren könne auch «glimpflich ablaufen, das Virus braucht mehrere Schritte zur Anpassung, und vielleicht ist es vorher schon unter Kontrolle», sagte Drosten weiter. «Aber es kann auch schon der Anlauf zu einer nächsten Pandemie sein, den wir hier live mitverfolgen.»

Was ist mit Impfstoffen?

Im Fall einer Vogelgrippe-Pandemie könnten Impfstoffe für Menschen nach Einschätzung des Berliner Infektiologen Leif Erik Sander rasch zur Verfügung stehen. «Wir haben Impfstoffe, die zugelassen sind, die in dem Moment, in dem ein Virus eine Pandemie auslöst, sehr schnell angepasst werden könnten», sagte der Charité-Professor bei einem Online-Pressegespräch. Allerdings müssten dafür Produktionskapazitäten hochgefahren werden.

Sander spricht von Influenza-Impfstoffen, die an die Untervariante des Vogelgrippe-Erregers angepasst werden müssten. Das Vogelgrippe-Virus H5N1 ist ein Influenza-A-Virus wie die beim Menschen kursierenden Erreger der saisonalen Grippe.

Die EU sicherte kürzlich 665'000 Impfdosen des Herstellers CSL Seqirus gegen die Übertragung der Vogelgrippe von Tieren auf Menschen für mehrere Mitgliedsstaaten.

Momentan gibt es laut Experten noch keine Veranlassung, Menschen aktiv zu impfen. (Symbolbild)
Momentan gibt es laut Experten noch keine Veranlassung, Menschen aktiv zu impfen. (Symbolbild)
Bild: Keystone/dpa

Gibt es neue Entwicklungen?

Derzeit entwickeln nach Angaben des deutschen Verbands Forschender Arzneimittelhersteller (VFA) eine Reihe von Unternehmen neuartige Grippeimpfstoffe auf mRNA-Basis – die Technologie, die zum Teil auch bei Covid-19-Impfstoffen zum Einsatz kam.

Dazu zählen der US-Konzern Moderna und das Biotech-Unternehmen Curevac in Zusammenarbeit mit dem Biopharma-Unternehmen GSK. Möglichst zeitnah soll die zweite Phase der klinischen Erprobung des Vogelgrippe-Impfstoffes starten, sagte Curevac-Sprecher Patrick Perez. Die weitere Entwicklung werde von GSK übernommen. Für eine Zulassung sind gewöhnlich drei klinische Phasen nötig.

Es handle sich um einen präpandemischen Impfstoff, erklärte Perez. Das Prinzip beruhe darauf, vor einem möglichen Ausbruch bereits einen Impfstoff so weit zu entwickeln, dass er im tatsächlichen Fall einer Pandemie schnell zugelassen und verfügbar gemacht werden könne. «Das bietet den Vorteil, im Fall einer Pandemie sehr schnell reagieren zu können, ohne einen Impfstoff zuzulassen, vorzuproduzieren und zu lagern, wenn er vielleicht nie gebraucht wird.»

Der Moderna-Kandidat befindet sich laut Moderna ebenfalls in der klinischen Untersuchung. «Wir erwarten erste vorläufige Ergebnisse aus diesen Studien im Laufe des Jahres. Wenn diese Ergebnisse positiv sind, wird der Impfstoffkandidat in die Phase-3-Entwicklung übergehen», teilte das Unternehmen mit.

Mit Material von dpa und afp.

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