Zweiter WeltkriegHakenkreuzfahnen und Massenflucht: Vor 80 Jahren wurde Paris besetzt
dpa/tsha
14.6.2020
Deutsche Soldaten auf den Champs-Élysées, Millionen flüchtende Menschen auf den Strassen. Der Juni 1940 war für Frankreich eine Zeitenwende – die «dunklen Jahre» begannen.
Die ersten Soldaten kamen morgens um halb sechs. Auf Motorrädern und Lastwagen erreichten sie die Porte de la Villette am nordöstlichen Stadtrand von Paris. Auf den grossen Verkehrsachsen rückten die Deutschen in das Zentrum der Metropole vor. Drei Stunden später wurde auf dem Dach des Marineministeriums an der Place de la Concorde im Herzen von Paris die erste Hakenkreuzfahne gehisst. Andere Gebäude wie das Aussenministerium folgten. Um 10:00 Uhr war die Stadt komplett besetzt.
Einige Bewohner gingen am 14. Juni 1940 neugierig auf die Strasse, andere schlugen erbost die Fensterläden zu. Viele Parisiens, wie die Hauptstädter in Frankreich heissen, waren geflohen, und die Stadt wirkte menschenleer. «Paris wurde zur offenen Stadt erklärt», notierte der Soldat Arnold Binder in sein Tagebuch. «Wir haben sie kampflos besetzt. Das Herz Frankreichs in unseren Händen!»
Der Einmarsch läutete die Besatzung durch Nazi-Deutschland ein, die bis zum 25. August 1944 dauern sollte. Die Stadt der Lichter erlebte ihre «dunklen Jahre», wie diese Zeit häufig noch umschrieben wird. Frankreich galt als führende Militärmacht Europas – und wurde vor 80 Jahren innerhalb kurzer Zeit von der Wehrmacht überrannt. Der «Blitzkrieg» führte zur schlimmsten Niederlage in der französischen Geschichte. Zehntausende Soldaten kamen bei Kämpfen ums Leben, etwa 1,8 Millionen Armeeangehörige kamen in deutsche Kriegsgefangenschaft.
Vor den anrückenden deutschen Truppen zog sich die französische Regierung über Tours in der Loire-Region nach Bordeaux zurück. Ein deutscher Offizier kam kurz nach dem Einmarsch in Paris zum Élyséepalast an der schicken Rue Faubourg St. Honoré. Er erkundigte sich, ob Präsident Albert Lebrun da sei. «Er hat nicht auf Sie gewartet», antwortete der Hausmeister lapidar. «Wo ist er?», fragte der Offizier. «Er ist losgefahren, ohne eine Adresse zu hinterlassen.»
«Das war eine wirkliche nationale Demütigung»
Die neuen Herren der Stadt besetzten viele Gebäude und Hotelpaläste. Das «Meurice» an der schnurgeraden Rue de Rivoli gibt es immer noch, ebenso wie «Lutetia» am linken Seine-Ufer, das damals zum Sitz der Abwehr und Gegenspionage wurde. Es tauchten Wegweiser in Deutsch auf, die kaum ein Einheimischer verstand: Heereskraftfahr-Park, Waffenwerkstatt, OKW-Reifenlager. Und es wurde die sogenannte Berliner Zeit eingeführt, die der französischen eine Stunde voraus war.
Viele Pariser gerieten in den dramatischen Tagen des Frühjahrs 1940 in Panik. Frauen, Kinder, Männer flüchteten mit Fahrrädern, Autos, Schubkarren und ihren Habseligkeiten. Die Kapitale war zwar auf mögliche Bombardierungen vorbereitet. «Die Möglichkeit einer Invasion wurde jedoch nie erwogen», erzählt Sylvie Zaidman, Direktorin des «Musée de la Libération de Paris».
Unter den geschätzt acht Millionen Menschen, die damals auf den Strassen des Landes unterwegs waren, seien allein zwei Millionen Hauptstadtbewohner gewesen, fährt Zaidman fort. «Das ist enorm». Sie hat dem «Exodus», wie sie diese beispiellose Massenflucht nennt, eine Ausstellung gewidmet.
«Das ist kein nettes Thema, das ist eine schlechte Erfahrung», sagte die Historikerin der Deutschen Presse-Agentur. In Frankreich werde bis heute nicht viel darüber gesprochen. «Das war eine wirkliche nationale Demütigung. Es war ein Chaos. Und es haben sich andere Erinnerungen darübergelegt – die Erfahrung der Besatzung, der ‹Résistance› oder der Befreiung.»
Hitler persönlich nimmt die Beute in Augenschein
Diktator Adolf Hitler liess es sich nicht nehmen, seine Beute in Augenschein zu nehmen. Innerhalb weniger Stunden besichtigte er die menschenleere Metropole an der Seine im Schnelldurchgang: Oper, Champs-Élysées, Triumphbogen, Trocadéro-Platz oder das Grab Napoleons. Über das Datum der Visite gibt es bis heute Debatten: Der Bildhauer Arno Breker, der damals dabei war, datiert sie auf den 23. Juni. Andere Quellen nennen den 15., 16. oder 28. Juni.
Zaidman unterstreicht die enormen politischen Folgen der chaotischen Juni-Tage: «Massenflucht, das allgemeine Durcheinander und der deutsche Einmarsch führten dazu, dass Marschall Pétain an die Macht kam», bilanziert sie.
Viele Menschen hätten damals das Gefühl gehabt, mit dem «Helden von Verdun» wieder zu einem System der Ordnung zurückzukehren. Philippe Pétain (1856 bis 1951) beendete den Krieg mit der Annahme der Waffenstillstandsbedingungen. Er stieg dann zum Chef des Vichy-Regimes auf, das mit den Nazis kollaborierte.
Erst im Frühjahr konnten sich Menschen in das Ambiente der Besatzungszeit zurückversetzen: Im Stadtteil Montmartre lag wegen der Corona-Krise wochenlang ein Filmset brach und war frei zugänglich. An Hausfassaden waren Propagandaplakate zu sehen. Passanten wunderten sich insbesondere über eine zweisprachige Bekanntmachung auf Deutsch und Französisch über eine nächtliche Ausgangssperre.
Während der Corona-Pandemie und der Ausgangsbeschränkungen wirkte die Hauptstadt wieder wie ausgestorben, auf den Champs-Élysées waren nur wenige Autos unterwegs. Viele Bewohner verliessen die Stadt, um die schwierige Zeit auf dem Land zu verleben. «Die Bilder sind trügerisch», warnt Museumschefin Zaidman. «Wir sind in einer anderen Zeit, mit einer anderen Problematik.»
Das Ende der SMS Dresden und des Ostasiengeschwaders
Das Ende der SMS Dresden und des Ostasiengeschwaders
Die SMS Dresden im Herbst 1909 in New York: Der Kleine Kreuzer der Kaiserlichen Marine ist zwei Jahre zuvor in Hamburg vom Stapel gelaufen und nimmt an den Feierlichkeiten zur 300-Jahr-Feier der Hudson-River-Ortung teil.
Bild: Gemeinfrei
Die Dresden, hier nochmal 1909 in New York, war wegen ihres damals hochmodernen Turbinenantriebs mit gut 25 Knoten relativ schnell, aber mit zehn 10,5- Millimeter-Geschützen sowie zwei Torpedo-Rohren eher leicht bewaffnet. Nach Station im Mittelmeer wird sie im Dezember 1913 ...
Bild: Gemeinfrei
... in die Karibik beordert. Dazu drei Karten: Ihr Ziel ist die dortige Insel St. Thomas. Sie gehört als eine von drei der Jungferninseln damals noch zu Dänemark, das diese 1917 an die USA verkauft. Auf St. Thomas unterhalten die Deutschen ...
Bild: Stiebers Handatlas von 1891
... ihre regionale Marinestation. Die Karte zeigt, wie Berlins Admiräle die Welt einteilen. Mit Ausbrechen des Ersten Weltkrieges geht SMS Dresden auf Feindfahrt Richtung Süden entlang der brasilianischen Küste und versenkt einige Boote – auf der anderen Seite von Südamerika ...
Bild: Gemeinfrei
... ist das deutsche Ostasiengeschwader, das eigentlich in der China-Kolonie Tsingtao stationiert ist, gerade in der Südsee unterwegs: Konteradmiral Maximilian von Spee befürchtet einen Angriff der Royal Australian Navy auf Deutschlands Hongkong – und marschiert mit seinem Geschwader bis Chile.
Bild: Gemeinfrei
Vor der chilenischen Stadt Coronel treffen Briten und Deutsche aufeinander: Die Royal Navy verliert nach über 100 Jahren mal wieder ein Seegefacht. Warum? Das Gemälde «Graf Spee versenkt die Monmouth» von William Lionel Wyllie zeigt, wie veraltet ...
Bild: Gemeinfrei
... die britischen Schiffe sind, die gegen die beiden Grossen Kreuzer Scharnhorst und Gneisenau sowie die Kleinen Kreuzer Dresden, Nürnberg und Leipzig keine Chance haben. Nach diesem Erfolg frischt das Ostasiengeschwader in ...
Bild: Gemeinfrei
... Valparaiso seine Vorräte auf, wo es von der Bevölkerung lautstark gefeiert wird. Der Grund: Die Stadt ist das Mekka deutscher Chile-Auswanderer. Im Bild: Das Geschwader läuft am 4. November 1914 Richtung Falklandinseln aus.
Bild: Gemeinfrei
Dort warten aber nicht nur der Zerstörer HMS Glasgow, der den Deutschen beim Gefecht vor Coronel entkommen ist, sondern auch eine Verstärkung, die London eiligst in das Gebiet verlegt hat. Das Ostasiengeschwader dreht bei und versucht zu entkommen.
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Dock Konteradmiral von Spee hat keine Chance: Die Schlachtkreuzer HMS Inflexible (im Bild) und HMS Invincible holen die Deutschen ein, weil deren Maschinen schon lange Wartung bedürfen. Die Feuerkraft feuern drei Mal so grosse Kaliber ab, ...
Bild: Gemeinfrei
... wie die Gneisenau und Scharnhorst – und sie schiessen zudem weiter. An der HMS Invincible, hie im Bild, nimmt die Marine allerdings Rache: Sie versenkt das Schiff in der Skagerrakschlacht von 1916.
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Als von Spee erkennt, dass seine Flucht sinnlos ist, lässt er die Gneisenau und die Scharnhorst beidrehen, damit die Kleinen Kreuzer entkommen können. Als seine SMS Scharnhorst sinkt, entkommt kein einziges Besatzungsmitglied.
Bild: Gemeinfrei
Danach jagt die Royal Navy die SMS Leipzig: Sie wird von den gegnerischen Kleinen Kreuzern Glasgow und Cornwall eingeholt, zerschossen und schliesslich von der Mannschaft selbst versenkt, deren Durchhaltewillen – man könnte es auch Borniertheit nennen – die Briten beeindruckt.
Bild: Gemeinfrei
«Es war unbegreiflich, wie die Nürnberg so lange überleben konnte», schrieb HMS-Kent-Kapitän Allen. «Wir achten schon, sie muss gesunken sein, doch als sich der Rauch legte war sie da wie eh und je und feuerte ihre Geschütze ab. [...] Als wir näher kamen, um zu schauen, ob die Flagge noch gehisst ist, gab es kein Anzeichen des Sinkens.»
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Wer im Seekrieg damals die Flagge einholte, warf quasi wie ein Boxer das Handtuch. Doch ein bizarrer, von den Briten initialisierter und den Deutschen perfektionierter Brauch macht den Untergang mit wehenden Fahnen zur Heldentat. «Nur zwölf Mann [von 322] konnten wir rausholen», schreibt Allen, «von denen nur sieben überlebten.»
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Unter der Besatzung der SMS Nürnberg war auch Otto von Spee, der Erstgeborene des Konteradmirals. Sein zweiter Sohn Heinrich starb im Gegensatz zu seinem Vater auf der SMS Scharnhorst an Bord der SMS Gneisenau (im Bild). Der Witwe von Spee blieb nach dem Falkland-Gefecht noch eine Tochter.
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Was Margareta von Spee dazu sagte? «Ist es nicht schön, dass der eigene Vater meine lieben Kinder erst zum Sieg und dann in den Tod führen durfte?» zitiert sie die «Zeit» – es waren eben andere Zeiten ... Im Bild: Das Gemälde «Die sinkende Scharnhorst» von William Lionel Wyllie.
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Die HMS Inflexible nimmt Überlebende der Gneisenau auf. Captain Allen über den Nürnberg-Untergang: «Wir dampferten langsam an den Punkt, an dem sie untergegangen war, um so viele Männer aufzunehmen wie wir konnten. Die See war von Wrackteilen, Rudern, Hängematten und Stühlen bedeckt, ...
Bild: Gemeinfrei
... und [einige] Männer hielten sich daran fest oder schwammen im Meer. Es war ein grauenhafter Anblick. Es gab so wenig, was wir tun konnten.» Die kalte See, zerschossene Rettungsboote und falscher deutscher Stolz sorgen dafür, da nur gut 200 Marine-Matrosen überlebt haben. Die SMS Dresden (Im Bild 1908 oder 1909) ...
Bild: Gemeinfrei
... und ein Versorgungsschiff können fliehen, werden aber gnadenlos gejagt. Drei Monate später erwischen die Briten die Deutschen in neutralen chilenischen Gewässern, feuern aber dennoch bis die Weisse Flagge gehisst wird (im Bild). Die Feuerpause nutzen die Matrosen zur Selbstversenkung.