Anomalie im Nordatlantik Europa droht der nächste Sommer mit extremer Hitze

Von Oliver Kohlmaier

20.6.2023

Rekord-Temperaturen des Oberflächenwassers im Nordatlantik könnten den europäischen Sommer weiter anheizen. 
Rekord-Temperaturen des Oberflächenwassers im Nordatlantik könnten den europäischen Sommer weiter anheizen. 
Bild: Sven Hoppe/dpa

Derzeit werden Rekord-Temperaturen des Oberflächenwassers im Nordatlantik registriert. Die Fachwelt ist verblüfft, vor allem aber besorgt. Die Anomalie könnte Europa einen noch heisseren Sommer bescheren.

Von Oliver Kohlmaier

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Seit Monaten werden im Nordatlantik aussergewöhnlich hohe Temperaturen des Oberflächenwassers registriert.
  • Die Gründe dafür sind noch nicht eindeutig geklärt. Es gibt zahlreiche Hypothesen. Der menschengemachte Klimawandel dürfte Fachleuten zufolge jedoch hauptverantwortlich sein.
  • Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Anomalie den Sommer in Zentral- und Westeuropa weiter anheizt.

Im vergangenen Jahr durchlebte Europa den heissesten Sommer seit Beginn der Aufzeichnungen — und der nächste könnte prompt folgen. Grund dafür ist unter anderem eine marine Hitzewelle im Nordatlantik, welche die Fachwelt zugleich erstaunt wie besorgt.

Denn niemand kann bisher eindeutig erklären, warum die Oberflächentemperaturen in weiten Teilen des Nordatlantiks für diese Jahreszeit so ungewöhnlich hoch sind.

«Mir fehlen die Worte» twitterte bereits vor drei Wochen der Klimaforscher Edgar McGregor zu der bemerkenswerten Anomalie und fragt: «Wie sollen wir das der Öffentlichkeit überhaupt erklären?»

Marine Hitzewelle

Denn die Temperaturen liegen bereits seit Monaten nicht nur ein bisschen, sondern weitaus höher als der langjährige Durchschnitt. Im Verlauf des Juni wurden neue Höchstwerte erreicht. Noch nie seit Beginn der Messungen war das Oberflächenwasser um diese Jahreszeit so warm.

Aktuell sind es 23,1 Grad Celsius und damit rund 1,1 Grad wärmer als der Durchschnitt der vergangenen 40 Jahre. Deshalb hat die US-Wetter- und Ozeanografiebehörde NOAA jetzt Teile des Nordatlantiks zu Zonen einer marinen Hitzewelle der Kategorie 4 erklärt, also «extrem». 

Was könnten die Ursachen sein?

Derzeit wird intensiv nach den Gründen für die Temperaturanomalie geforscht, Indizien gibt es viele. Sehr wahrscheinlich ist gleichwohl, dass es nicht nur eine, sondern mehrere Ursachen gibt. Eine davon ist schnell ausgemacht: Die menschengemachte Erderwärmung heizt schliesslich nicht nur die Atmosphäre auf, sondern auch die Ozeane.

Wie die meisten Klimaforscher sieht auch der renommierte Ozeanograf Mojib Latif den Klimawandel als Hauptgrund für die marine Hitzewelle in weiten Teilen des Nordatlantiks an: «Die Weltmeere haben 90 Prozent der Wärme aufgenommen, die durch die menschengemachten Treibhausgase entstehen», sagt der Forscher vom Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel.

Zudem habe ein anhaltendes Tiefdruckgebiet dazu geführt, dass mehr warme Luft von Südwesten und weniger kalte Luft von Nordosten in den subtropischen Nordatlantik strömte, erklärt der Klimaphysiker Helge Gössling vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven. Ferner hätten sich auch die Windströmungen in der Region abgeschwächt, was die Oberflächentemperatur ebenfalls erhöht.

Steilklippen am portugiesischen Cabo Sardao. Derzeit ist der Nordatlantik so warm wie noch nie um diese Jahreszeit seit Beginn der Satellitenmessungen vor 40 Jahren.
Steilklippen am portugiesischen Cabo Sardao. Derzeit ist der Nordatlantik so warm wie noch nie um diese Jahreszeit seit Beginn der Satellitenmessungen vor 40 Jahren.
Bild: Manuel Meyer/dpa-tmn/dpa

Sahara-Staub und umweltfreundliche Schiffe

Doch es gibt noch weitere Vermutungen. Eine Hypothese ergibt sich aus der vielerorts strengeren Gesetzgebung bei Schadstoffemissionen von Schiffen. Weil die in den vergangenen Jahren weniger Schwefel ausstiessen, entfällt der kühlende Effekt der Partikel, die Sonnenlicht reflektieren und damit die Erwärmung des Oberflächenwassers reduzieren. Auch über verminderte Mengen an Sahara-Staub wird spekuliert, der ebenso das Sonnenlicht reflektiert und sich somit kühlend auswirkt.

Gegen die Hypothese spricht jedoch, dass die Abnahme der Emissionen und Anstieg der Temperaturen nicht zusammenpassen. Erstere nahmen über die Jahre stetig ab, die Temperaturkurve geht jedoch abrupt und steil nach oben.

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Dass verbesserter Umweltschutz die Klimaerwärmung kurzfristig zusätzlich verstärkt, lässt sich übrigens auch global beobachten. Von der bisher registrierten Erderwärmung gehen — je nach Studie — wenige Zehntelgrad auf das Konto sinkender Schadstoffemissionen aus der Industrie.

Auch auf der Kandidatenliste befindet sich El Niño, ein Wetterphänomen, welches generell mit höheren Temperaturen in Verbindung gebracht wird. Latif jedoch ist skeptisch: «Ich glaube nicht, dass es damit etwas zu tun hat, denn es fängt ja jetzt erst an.»

Extreme Hitze droht im Sommer

Während Forscher*innen also weiter nach der Ursache fahnden, sind die Folgen leichter abzuschätzen. Bereits jetzt wirken sich die hohen Wassertemperaturen auf die Flora und Fauna aus. So wurden etwa tote Fische an der Küste vor Texas angespült.

Fachleuten zufolge werden die Oberflächentemperaturen sehr wahrscheinlich auch das Wetter in den angrenzenden Ländern beeinflussen — also vor allem in West- und Zentraleuropa.

«Mit bis zu fünf Grad über normal hat sich die Wassertemperatur vor den West- und Südküsten Frankreichs gerade besonders stark erwärmt», sagt Gössling. Die insgesamt warmen Wassertemperaturen im Nordatlantik könnten tendenziell zu einem heisseren Sommer in Mitteleuropa führen bis hinein in den August. Es drohen ausserdem weitere Extremwetterereignisse. Warme Luft nehme mehr Wasser auf, das West- und Südwinde nach Europa tragen könnten. Das fördere etwa Starkregenfälle, erklärt der Forscher.

Dabei hat der Sommer schon jetzt weitere Rekorde gebrochen. Gemäss des europäischen Erdbeobachtungsprogramms Copernicus überschritten die mittleren Lufttemperaturen erstmals in einem Juni die 1,5-Grad-Marke, am 9. Juni waren es gar 1,69 Grad Celsius. Diese Höchstwerte waren bis jetzt nur im Winter oder Frühjahr registriert worden.

Wohlgemerkt: Wenn von überdurchschnittlich hohen Temperaturen die Rede ist, sind die vielen heissen Jahre der vergangenen Jahrzente bereits enthalten.

Die konkreten Vorhersagen für den Sommer sind zwar mit Unsicherheiten behaftet. Gleichwohl deuten die jüngsten Prognosen darauf hin, dass es überdurchschnittlich heiss wird. Am höchsten ist die Zuverlässigkeit der Modelle für Zentral- und Mitteleuropa.

Europa erwärmt sich am stärksten

Auch global steht ein weiteres Rekordjahr bevor: «Es wird wahrscheinlich eines der global wärmsten Jahre seit Beginn der Temperaturmessung werden», sagt Dietmar Dommenget von der Monash University im australischen Melbourne. Dazu werde auch das Phänomen El Nino beitragen. Entwickelt sich dieser stark, würden weitere Wärmerekorde purzeln.

Insgesamt erwärmt sich von allen bewohnten Kontinenten Europa am stärksten. Das bestätigen auch jüngste Daten von Copernikus. Demnach lag die Durchschnittstemperatur im vergangenen Jahr 2,3 Grad über den Werten des vorindustriellen Zeitalters und damit rund doppelt so stark wie der globale Durchschnitt. Über 16'365 Europäer*innen starben 2022 an den Folgen «meteorologischer Ereignisse», fast ausschliesslich Hitzewellen.

Wo die Reise hingeht, macht Carlo Buontempo von Copernicus bei der Vorstellung des Berichts unmissverständlich klar:

«Leider handelt es sich dabei nicht um ein einmaliges Ereignis oder eine klimatische Besonderheit.»

Mit Material von dpa.