Die wichtigsten Fragen Ein Jahr Coronavirus – was wir alles noch nicht wissen

tafi

29.12.2020

Das Coronavirus «feiert» seinen ersten Geburtstag – und wird bereits mit Impfstoffen bekämpft. Selten hat die Wissenschaft schneller und effektiver gearbeitet, doch noch längst nicht alle Rätsel sind gelöst. 

Ein knappes Jahr ist es her, dass China bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) die ersten Fälle einer «mysteriösen neuen Art von Lungenentzündung» meldete. Seit dem 31. Dezember 2019 hat das Coronavirus nicht nur mehr als 80 Millionen Menschen auf der ganzen Welt infiziert, sondern auch in Rekordzeit viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens lahmgelegt. Lockdown, Kontaktbeschränkungen, Grenzschliessungen, Reiseverbote, Wirtschaftseinbrüche – von dem, was wir als selbstverständlich erachtet haben, hat die Pandemie ziemlich schnell ziemlich viel kaputtgemacht.

Auf der anderen Seite hat auch die Wissenschaft in rekordverdächtigem Tempo gearbeitet. Chinesische Wissenschaftler haben Anfang 2020 in zwei Wochen das Virus identifiziert und den genetischen Code entschlüsselt. Drei Wochen später wurden die ersten Testkits verteilt, und nach etwas mehr als elf Monaten wurden die ersten Menschen in der westlichen Welt geimpft. So schnell wie gegen Sars-CoV-2 wurde noch nie ein Impfstoff entwickelt.

«Wir haben in kurzer Zeit enorm viel über das Virus gelernt», resümiert Maureen Ferran vom Rochester Institute of Technology bei CNN. Die Professorin für Biologie weiss aber auch, dass es noch «ein sehr weiter Weg ist, bis wir das Virus im Detail verstehen». Virologen und Gesundheitsexperten können sich laut Ferran auf jahrzehntelange Arbeit einstellen. In der Tat sind es teilweise die Grundlagen, die immer noch nicht geklärt sind. Ein Überblick über fünf ungeklärte Fragen.

1
Wie und wo ist das Virus entstanden?

Mittlerweile völlig aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden ist die Frage nach dem Ursprung des Virus. Wissenschaftler sind sich lediglich bei einigen grundlegenden Fragen einig: SARS-CoV-2 gehört zu einer Art von Viren, die für gewöhnliche Erkältungen genauso verantwortlich sind wie für SARS. Als gesichert gilt auch, dass das Virus von einem Tier auf den Menschen übergesprungen ist. Die Corona-Krankheit Covid-19 ist demnach eine Zoonose, als Ursprungswirt gelten Fledermäuse.



Weithin angenommen wird, dass ein Markt, auf dem lebende Tiere verkauft werden, in der chinesischen Stadt Wuhan der Ausgangsort für die Pandemie gewesen ist. Studien haben allerdings Belege dafür gefunden, dass das Virus bereits Monate früher in den Vereinigten Staaten und Europa zirkuliert haben könnte als zunächst angenommen.



Wo und wann das Virus zuerst auf den Menschen übergesprungen ist und ob es über einen anderen tierischen Zwischenwirt, wie ein Schuppentier oder eine Schleichkatze, übertragen wurde, ist hingegen noch nicht bekannt. «Das sind Fragen, die wir vielleicht nie beantworten werden», sagt Ferran. Schliesslich habe die Wissenschaft in den mehr als 40 Jahren seit der Entdeckung von Ebola noch nicht endgültig klären können, von welchem Tier es stammt.

2
Warum gibt es unterschiedlich schwere Krankheitsverläufe?

Covid-19 galt zunächst als Atemwegserkrankung. Doch im Laufe der Zeit wurde eine Reihe weiterer Symptome und Komplikationen entdeckt. Viele Patienten verlieren ihren Geruchssinn, manche erbrechen oder haben Durchfall, bei anderen verfärben sich Finger oder Zehen. Auch Wahrnehmungsstörungen oder Hirnschäden können auftreten.

Einige Menschen leiden nach Abklingen der akuten Symptome unter monatelangen Spätfolgen. «Noch gibt es relativ wenige Daten dazu – vor allem fehlen aber noch systematische Langzeitstudien», sagt die deutsche Neurologin Prof. Kathrin Reetz von der Neurologischen Klinik der RWTH Aachen. Klar ist lediglich: Die Berichte über die Langzeitfolgen einer Corona-Infektion häufen sich.



Unklar ist ebenfalls, warum einige Infizierte ganz ohne Symptome bleiben und andere intensivmedizinisch behandelt werden müssen. Zuletzt machte diesbezüglich ein Fall aus Italien Schlagzeilen: Dort waren eineiige Zwillingsbrüder an Covid-19 erkrankt. Während einer der beiden 60-jährigen Männer ohne Komplikationen aus dem Krankenhaus entlassen wurde, musste der andere an ein Beatmungsgerät angeschlossen werden.

Der Fall illustriert ziemlich deutlich das Rätsel, vor dem Forschende stehen. «Aus Gründen, die wir nicht vollständig verstehen, kommen manche Menschen besser mit Infektionen zurecht als andere», sagt Peter Collignon, Professor für Mikrobiologie an der Australian National University, bei CNN. Es scheint in einem gewissen Masse vom Zufall abzuhängen, wie stark das Coronavirus die Menschen trifft. Sicher ist lediglich, dass das Risiko für schwere Verläufe bei bestehenden chronischen Erkrankungen und mit zunehmendem Alter steigt.

Collignon gibt zu, dass die Wissenschaft noch nicht weiss, warum etwa die Covid-Todesrate bei älteren Menschen signifikant höher ist als bei einer Grippe. «Wir haben die Daten und wir wissen, dass es wahr ist (...) aber ich glaube nicht, dass wir alle Antworten darauf haben.»

3
Wie verbreitet sich das Coronavirus?

Bereits im Januar bestätigte China, dass das Virus von Mensch zu Mensch übertragen werden kann. Ein Jahr später gibt es immer noch eine Debatte darüber, wie genau das passiert.

Wissenschaftler sagen, dass sich das Virus vor allem durch Tröpfchen verbreitet, die in die Luft gelangen, wenn jemand hustet oder niest. Diese Tröpfchen fallen nach ein oder zwei Metern auf den Boden und Masken können helfen, ihre Verbreitung zu verhindern. Auch Aerosole spielen bei der Verbreitung eine Rolle – viel kleinere Partikel, die stundenlang in der Luft schweben und grosse Entfernungen zurücklegen können.

Ungeklärt ist noch immer die Frage, welche Dosis des Coronavirus nötig ist, damit sich jemand infiziert. Auch wie stark Kinder an der Verbreitung des Virus beteiligt sind, ist noch unklar.

4
Wie lange ist man nach einer Infektion immun?

Bei vielen Infektionskrankheiten gilt: Hat ein Patient die Erkrankung hinter sich, ist er einige Zeit vor dem Erreger geschützt. Bei Corona gibt es dazu zwar viel Forschung, aber kein klares Ergebnis. Im Oktober wurde in einem Fachblatt von einem Fall berichtet, bei dem sich ein 25-jähriger US-Amerikaner innert sechs Wochen zweimal angesteckt hat und erkrankt ist. 

Die gute Nachricht sei aber laut Collignon, dass «es ein derart seltenes Ereignis ist, dass es in einer medizinischen Zeitschrift beschrieben wird». Rund 99 Prozent der Infizierten seien nach der Infektion mit dem Virus für mindestens sechs Monate immun.



Die grosse Frage bleibt trotzdem: Wie lange hält die natürliche Immunität gegen das Virus an? Die Wissenschaft hat noch keine Antwort darauf, schlichtweg, weil das Virus noch sehr jung ist.

Auch bei den Impfstoffen ist nicht klar, wie lange die Immunität anhält. Man gehe zwar davon aus, dass die Vakzine für mehrere Jahre einen gewissen Schutz bieten würden, «aber im Endeffekt wissen wir es noch nicht», sagt Collignon. Im Moment sähe es allerdings so aus, dass die Coronavirus-Impfstoffe wirksamer sind als die Grippeimpfstoffe, die jedes Jahr neu verabreicht werden müssen.

5
Wann ist die Pandemie vorbei?

Auf die Frage der Fragen hat niemand eine Antwort. Auch wenn mit dem Impfstoff die Hoffnung wächst, die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen – sicher ist das nicht. Erstens würde es Jahre dauern, bis der grösste Teil der Weltbevölkerung geimpft ist. Zweitens ist die Impfbereitschaft auch in der Schweiz nicht besonders gross. Nur etwas mehr als ein Drittel der Bürgerinnen und Bürger wollen sich hierzulande schnellstmöglich impfen lassen.  Und drittens bietet kein Impfstoff der Welt eine 100-prozentige Sicherheit, wie Collignon erklärt. Ungeklärt ist zudem, ob Geimpfte das Virus weiter verbreiten können.



Auch, wie sich das Virus in Zukunft entwickelt, weiss niemand. Es könnte mutieren und virulenter werden, wie zuletzt die beiden Varianten aus Grossbritannien und Südafrika. Es könnte sich aber auch abschwächen. Einen Zeitplan für das Ende der Pandemie gibt es nicht. Wichtig sei nun, Antworten auf all die ungeklärten Fragen zu finden, so Collignon. Und mehr noch: Geld in die Grundlagenforschung zu stecken.



Es seien zwar Milliarden Dollar in die Entwicklung von Impfstoffen und Medikamenten investiert worden, aber es ist «unmöglich Mittel zu bekommen, um etwa zu erforschen, wie effektiv diese Maske im Vergleich zu jener ist», so Collignon. Mit Grundlagenforschung lasse sich ein akutes Problem zwar nicht wegzaubern, aber sie ist wichtig, um Risiken zu minimieren und für zukünftige Pandemien gewappnet zu sein.

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