Energie-Expertin zur Stromlücke«Wir brauchen neue Kraftwerke. Die Frage ist: Welche?»
Von Philipp Dahm
4.2.2022
Dass die Schweiz Potenzial hat, ist bekannt. Dass sie theoretisch aber ihren gesamten Verbrauch mit Solarkraft bestreiten könnte, überrascht dann doch. Ein Gespräch über Strompreise, Atom-Petarden, Winterlücken und russisches Gas.
Von Philipp Dahm
04.02.2022, 06:52
04.02.2022, 14:16
Philipp Dahm
Die Ukraine-Krise und Angst vor dem Ausfall russischer Gas- und Kohlelieferungen aus Russland treiben die europäischen Strompreise in die Höhe: Der Energieriese Alpiq musste deshalb vor wenigen Tagen sein Kapital erhöhen. Verunsicherung herrscht auch nach der Warnung vor einer Stromlücke, die die Schweiz 2025 treffen könnte.
Was tut der Bund, um gegenzusteuern? Welcher Energieträger hat welches Potenzial? Nutzt die Schweiz eigentlich russisches Gas? Marianne Zünd, Leiterin Medien und Politik beim Bundesamt für Energie, hat mit blue News diese Fragen geklärt.
Wie voll ist der Akku der Schweiz jetzt gerade? Wie viel Prozent unseres Stroms müssen wir aktuell importieren?
Generell ist es so, dass wir im Winter mehr importieren, als wir exportieren. Aber: Wir exportieren auch im Winter. Es gibt also einen ständigen Austausch mit unseren Nachbarländern.
Wie fällt die Jahresbilanz aus?
Das ist je nach Jahr unterschiedlich. In den letzten zehn Jahren hatten wir übers ganze Jahr gesehen siebenmal einen Export- und dreimal einen Import-Überschuss.
Wie sind aktuell die Preise auf dem Strommarkt?
Die Preise waren vor allem im Dezember deutlich höher als noch vor ein paar Monaten. Das hängt mit den stark gestiegenen Gaspreisen zusammen. Die Energiepreise sind aneinander gekoppelt. Im Markt definiert sich der Strompreis immer nach dem letzten Kraftwerk, das noch zugeschaltet werden muss, um die Nachfrage zu decken. Gerade, wenn es kälter wird, sind das dann häufig Gaskraftwerke, und wenn die Gaspreise hoch sind, steigen die Strompreise dann entsprechend stark an.
In der Schweiz gibt es drei Gaskraftwerke?
Bei uns gibt es Testanlagen und Gasturbinen, die als Wärme-Kraft-Kopplungsanlagen Gebäude heizen und auch Strom produzieren, aber keine Gaskraftwerke, die ausschliesslich Strom produzieren. Solche Kraftwerke stehen aber als Reserve derzeit zur Diskussion, um die Versorgungssicherheit im Winter zu garantieren. Die Elektrizitätskommission hat dazu einen Vorschlag erarbeitet, über den der Bundesrat bald beraten wird.
Wieso hat Frau Sommaruga Gaskraft nur «für den Notfall» ins Spiel gebracht?
Wir hatten in der Schweiz bisher sehr wenig fossile Stromproduktion und wollen bis 2050 klimaneutral sein. Um die Schweizer Klimaziele einzuhalten, sollen die Reserve-Gaskraftwerke nur dann laufen, wenn sich wirklich ein Strommangel abzeichnet.
Ein Grund ist die Krise in der Ukraine und die Sorge um russische Gaslieferungen. Ist Gas im Schweizer Energiemix wichtig?
Gas spielt schon eine Rolle: In der Schweiz laufen einige industrielle Anlagen damit, und etwa 20 Prozent der Wohngebäude werden mit Gas beheizt. 15 Prozent des gesamten Endenergieverbrauchs der Schweiz werden mit Erdgas gedeckt.
Genaue Zahlen gibt es nicht dazu: Die Schweizer Gasversorger haben keine direkten Lieferverträge mit Russland, sondern kaufen das Gas auf den europäischen Handelsplätzen ein. Dort wird natürlich auch russisches Gas verkauft, aber die Herkunft wird nicht deklariert. Grob geschätzt kommt wahrscheinlich die Hälfte des hier verbrauchten Gases aus Russland.
Wenn die Preise weiter steigen würden, könnte das Schweizer, aber auch europäische Energieversorger ins Schleudern bringen?
Es ist das Worst-Case-Szenario: Solange ein Schweizer Unternehmen betroffen ist, kann man versuchen, in der Schweiz Lösungen zu finden. Wenn aber grosse Unternehmen in Europa ausfallen, könnte es einen Dominoeffekt geben, weil alle miteinander verbunden sind und miteinander handeln. Sollte da einer nicht liefern können, kann es auch der nächste Anbieter nicht. Das schauen wir seit den Schwierigkeiten von Alpiq von Ende Dezember genauer an.
Würden Probleme zum Beispiel bei Alpiq national auch so eine Kettenreaktion auslösen?
Wir haben in der Schweiz sehr viele Betreiber, die in ihrem Netzgebiet Kunden mit Strom beliefern, und die kaufen ihren Strom natürlich auch irgendwo ein – etwa bei der BKW oder Axpo. Das ganze System steht also in Wechselbeziehungen zueinander.
Wie wichtig ist ein stabiler Stromfluss fürs Netz?
Das Netz muss ständig auf einer bestimmten Frequenz laufen. Steigt oder sinkt diese, kippt es irgendwann und das Netz läuft nicht mehr stabil. Die zulässige Frequenzbandbreite ist sehr schmal und muss zu jeder Sekunde eingehalten werden.
Wie wirken sich das fehlende EU-Rahmen- und Stromabkommen aus?
Weil wir kein Stromabkommen haben, sind wir nicht vollständig in die EU-Regulierung eingebunden. Das birgt gewisse technische Risiken, die wir bereits spüren und die zunehmen. Wenn zum Beispiel Deutschland und Frankreich Strom handeln, wird dieser physisch durch das Netz geliefert. Wenn die Schweizer Leitungen dazwischen nicht berücksichtigt werden, kann es zu ungeplanten Flüssen durch die Schweiz kommen, obwohl die Lieferung mit uns nichts zu tun hat.
Was hat das zur Folge?
Dies belastet dann unser Übertreibungsnetz und Swissgrid, unsere nationale Netzgesellschaft, muss eingreifen. Sie muss zum Beispiel Reserveenergie abrufen, um das Netz stabil zu halten. Diese sogenannten Systemdienstleitungen kosten Geld und die Kosten werden letztlich dem Stromkunden überwälzt. Das erhöht den Strompreis, weil wir eben nicht in die europäische Strommarktregulierung eingebunden sind. Wir würden dort aber gern dabei sein, insbesondere um die technische Sicherheit bei uns weiterhin zu garantieren.
Der Stromverbrauch ist grösser als angenommen, während AKW vom Netz gehen: Ist die Lücke ohne den Bau neuer Kraftwerke zu schliessen?
Nein. Wir brauchen auf jeden Fall neue Kraftwerke. Die Frage ist: Welche?
Nachdem die EU Atomkraft als grün eingestuft hat, fordern manche neue AKW, obwohl das unrentabel ist. Andere bringen längere Laufzeiten ins Spiel. Ist das eine Alternative?
Das ist eine Nebelpetarde: Wir kennen in der Schweiz keine gesetzlich festgelegten Laufzeiten. Darum kann man sie auch nicht verlängern. Ein Neubau ist seit 2017 gesetzlich verboten, aber die bestehenden dürfen laufen, solange sie sicher sind oder der Betreiber sie für wirtschaftlich hält. Weil das beim AKW Mühlenberg aus Sicht des Betreibers nicht mehr der Fall war, weil teure Nachrüstungen bevorstanden, hat die BKW es abgestellt.
Wie soll die Lücke dann geschlossen werden?
Einerseits soll die Wasserkraft weiter gestärkt werden: Ein runder Tisch hat 15 Projekte identifiziert, die bis 2040 umgesetzt werden können. Die Planungs- und Bewilligungsverfahren sollen gestrafft und verkürzt und auch die anderen erneuerbaren Energien ausgebaut werden: Solar- und Windenergie, Biomasse und Geothermie sollen schneller vorankommen und gefördert werden.
Solarstrom hat beim Strom einen Anteil von fünf Prozent, Wind von einem Prozent: Können Erneuerbare genug leisten?
Die Solarenergie hat in der Schweiz ein unglaublich hohes Potenzial. Es liegt bei etwa 67 Terawattstunden: Das ist mehr, als wir derzeit im Jahr verbrauchen. Und das allein auf gut und sehr gut geeigneten Dächern und Fassaden. Die Problematik ist, dass nachts und bei schlechtem Wetter nichts produziert wird – deshalb muss man parallel auch die Speichermöglichkeiten ausbauen.
Wie teuer oder günstig sind Solar- und Windkraft inzwischen?
Die Preise für Solaranlagen sind in den letzten 15 Jahren sehr stark gesunken und liegen im Vergleich zu damals nun vielleicht bei zehn bis 20 Prozent. Die Anlagen sind auch effizienter geworden. Sie haben sich nach 15 Jahren amortisiert: Danach hat man den Strom gratis. Bei der Windenergie ist es ähnlich: Die Preise sind gesunken, die Technologie effizienter. Und sowohl für Solar- als auch für Windkraftanlagen gibt es auch Fördergelder.
Hat die Solarenergie mit Blick auf die Winterlücke nicht Nachteile?
Nicht unbedingt, in den Alpen gibt es laut einer ETH-Studie sogar hohes Potenzial für Solaranlagen, die dort über der Nebelgrenze liegen. Dank der Reflexion der Sonnenstrahlen durch den Schnee und der kalten Temperaturen arbeiten die Anlagen dort oben zudem effektiver. Würde man die Solarenergie dort im grossen Stil ausrollen, könnte man so jährlich über 15 Terawattstunden Strom produzieren. Das ist fast ein Drittel des heutigen Stromverbrauchs der Schweiz.
Warum haben es Windanlagen bisher so schwer? Sind sie nicht ideal für den Winter?
Windanlagen liefern im Winter zwei Drittel des Stroms, sind eine gute Winter-Technologie und es gibt viele Projekte in der Planung, in kantonalen Bewilligungsverfahren oder in Gerichtsverfahren. Aber es gibt ein Akzeptanzproblem: Wir kommen einfach nicht vom Fleck. Wir haben in den Energieperspektiven 2050+ konservativ gerechnet rund vier Terawattstunden Potenzial bis 2050 angenommen. Das ist etwas mehr als die Jahresproduktion des AKW Mühleberg. Aber eigentlich ist das technisch und wirtschaftlich umsetzbare Potenzial deutlich grösser.