Experte über grüne Energie in der Schweiz Ist der Tessiner Batterie-Turm wirklich so super?

Von Philipp Dahm

31.10.2021

Das Energy-Vault-Projekt im Tessin: Gravitation als Triebkraft.
Das Energy-Vault-Projekt im Tessin: Gravitation als Triebkraft.
Bild: Energy-Vault

Ein 120 Meter hoher Turm wird als neue «Superbatterie» angepriesen: Was hat es mit der Innovation aus dem Tessin auf sich? Und wie steht es um erneuerbare Energien in der Schweiz? Ein Fachmann gibt Auskunft.

Von Philipp Dahm

Vor der UNO-Klimakonferenz am Sonntag in Glasgow steht bereits fest, dass uns stürmische Zeiten bevorstehen. In dieser Lage sind Lösungen, die die Umwelt schonen, gern gesehen.

Kein Wunder, dass das «SRF» so elektrisiert war. Eine «Superbatterie aus dem Tessin» errege weltweites Interesse, plane den Börsengang in New York und entfache selbst bei der Belegschaft «Euphorie»: Die Rede ist von einem Projekt der Tessiner Firma Energy Vault.

Die Luganeser errichten gerade in Arbedo-Castione einen 120 Meter hohen Turm, der überschüssige Energie speichern kann. «Wir haben die tonnenschweren Betonklötze im Turm täglich mit Strom aus dem Stromnetz aufgeladen», erklärt CEO Robert Piconi. Durch ihr Herablassen werde die gespeicherte Energie dann wieder abgegeben.

Da fragt sich der Laie: Ist dieses Prinzip jetzt wirklich so neu, nachdem hier schon seit vielen Jahrzehnten Wasser in die Höhe gepumpt wird, um es später wieder fallenzulassen und dabei anzuzapfen? Der Experte antwortet darauf – und beleuchtet weitere Aspekte grüner Energie in der Schweiz.

Zur Person
Bild: Gemeinfrei

Anton Gunzinger aus Welschenrohr SO ist Elektroingenieur. Der ETH-Professor hat Prozessoren erforscht, mehrere Preise gewonnen und sich in der Computerindustrie selbstständig gemacht. 2015 hat der 65-Jährige das Buch «Kraftwerk Schweiz. So gelingt die Energiewende» veröffentlicht.

Ist die Energy-Vault-Idee gar nicht so neu?

Die Ideen, dass Stromspeicherung mit Gravitation gemacht werden kann, existiert schon seit geraumer Zeit. Es gab in Deutschland ein Projekt, einen sehr grossen Betonklotz mit Wasser zu heben, und so Energie ähnlich wie bei einem Pumpspeicherwerk zu speichern. In der Schweiz ist die Energiespeicherung mit Gravitation dank der vielen Berge relativ einfach. Anders sieht die Situation in flachen Gegenden aus: In Deutschland etwa macht ein Speichersystem, so wie es Energy-Vault vorschlägt, Sinn.

Wie effektiv ist denn eigentlich jener neue Speicher aus dem Tessin?

In der Effizienz ist der Ansatz von Energy-Vault vergleichbar mit Pumpspeicherwerken und damit grösser als 80 Prozent. Sie können 35 Megawattstunden für 8 Millionen Franken speichern. Damit sind sie beim Preis etwa vier- bis fünfmal günstiger als eine heutige Hausbatterie. Aber aufgepasst: Die Preise bei den Hausbatterien sind rasant am Sinken.

Bekanntes Prinzip: Staumauer Muttsee des Pumpspeicherwerks Limmern in Linthal GL. 
Bekanntes Prinzip: Staumauer Muttsee des Pumpspeicherwerks Limmern in Linthal GL. 
KEYSTONE

Was sind denn auf dem Energiemarkt gerade die aktuellen Trends?

Dezentrale Produktion mit Photovoltaik auf dem Dach und Batterien als dezentraler Speicher. Damit lässt sich die Tagesproduktion auf die Nacht verschieben. Wenn wir die Entwicklung bei den Batterien in den Autos ansehen, können wir davon ausgehen, dass in fünf Jahren die Hausbatterie im Vergleich zum Ansatz von Energy-Vault wahrscheinlich konkurrenzfähig sein wird. Es kommt auch immer auf die Infrastruktur an: Wenn Sie ein starkes Netz haben, kann ein zentraler Ansatz, wie wir ihn im Tessin haben, durchaus Sinn machen. Und auch Energy-Vault kann günstiger werden.

Und wenn die Infrastruktur schlecht ist?

Wenn Sie kein starkes Netz haben, was in vielen Entwicklungsländern der Fall ist, ist die Batterie von Vorteil.

Was ist also Ihre Einschätzung der Tessiner Neuerung?

Ich glaube, es ist ein Nischenprodukt. Es wird nicht das grosse Speicherproblem – nämlich die saisonale Verschiebung vom Sommer in den Winter – lösen, aber es hilft. Die Batterie ist langfristig gesehen das günstigere Mittel, das auch noch dezentral eingesetzt werden kann. Das hat in vielen Fällen noch den grossen Vorteil, dass es das Netz entlasten kann. Sie können mit Batterien Verbrauchsschwankungen aufnehmen, weshalb ich die dezentrale Batterie als stärksten Konkurrenten sehe.

Die Steuerzentrale des Batterie-Moduls der EKZ im Testbetrieb in Volketswil ZH: Mit einer Leistung von 18 Megawatt und einer Speicherkapazität von 7,5 Megawattstunden handelt es sich im April 2018 um die grösste Batterie der Schweiz, die das Stromnetz stabilisiert.
Die Steuerzentrale des Batterie-Moduls der EKZ im Testbetrieb in Volketswil ZH: Mit einer Leistung von 18 Megawatt und einer Speicherkapazität von 7,5 Megawattstunden handelt es sich im April 2018 um die grösste Batterie der Schweiz, die das Stromnetz stabilisiert.
KEYSTONE

Mischen auch Schweizer Firmen bei der Batterie-Entwicklung mit?

Leclanché spielt auf dem Markt gut mit. Ausserdem gibt es im Tessin in Stabio noch die Firma FZSonick, die Salzbatterien herstellt. Der Nachteil dieser Salzbatterien ist, dass sie im Vergleich etwa zu einer Lithium-Ionen-Autobatterie recht schwer sind. Der Vorteil der Tessiner Batterie ist dagegen, dass sie aus hundertprozentig abbaubarem Material hergestellt werden kann. Das ist natürlich eine interessante Geschichte: Für ein Haus wäre so eine Lösung sicher gut.

Gibt es andere Akteure?

Da ist noch Belimo, ein Spin-off der ETH Zürich, an der sich Nicolas Hayek Jr. beteiligt hat. Ich habe von Insidern gehört, sie arbeiten an einer Batterie, die günstiger als die Batterie von Tesla sein soll. Sie arbeiten mit Nano-Tubes auf Kohlenstoff-Basis. Ein grosser Vorteil dieser Batterie ist, dass sie zu 100 Prozent abbaubar ist. Das könnte eine sehr interessante Geschichte werden.

Sollten wir uns angesichts der steigenden Öl- und Gaspreise nicht eigentlich freuen, dass der Energiemix hierzulande so breit gefächert ist?

Ich habe in meinem Buch vorgeschlagen, ganz auf erneuerbare Energien zu setzen. Wichtig wäre dafür der breite Ausbau von Photovoltaik- und auch Windkraft-Anlagen. Die haben aber in der Schweiz einen schwierigen Stand.

Wie viel Potenzial hätte denn die Windkraft?

Ich habe geschrieben, dass 3000 MW Windstrom möglich seien. Österreich hat das bereits geschafft – man kann ja jetzt nicht behaupten, dass Österreich derart andere topografische Verhältnisse hat als die Schweiz. Eine Ausnahme ist zugegebenermassen die Donau-Ebene unterhalb von Wien, aber es wurden auch viele Windräder in den Bergen aufgestellt. Die Schweiz hat bis heute nur 75 MW geschafft, verglichen mit den 3000 MW Windleistung in Österreich. Dass wir Wind nicht genügend forcieren, ist eines der grossen Probleme.

Das Tessin setzt auf erneuerbare Energien – hier beim Bau eines Windparks auf dem Gotthardpass im August 2020.
Das Tessin setzt auf erneuerbare Energien – hier beim Bau eines Windparks auf dem Gotthardpass im August 2020.
KEYSTONE

Wie steht es um andere erneuerbare Energiequellen?

Bei der Photovoltaik sind wir fast das Schlusslicht Europas. Das müsste nicht so sein: Das Geld ist vorhanden und es ist nun wirklich nicht so, dass in der Schweiz die Sonne nicht scheint. In den Bergen ist vor allem im Winter der Ertrag äusserst vernünftig.

Warum hat es Photovoltaik so schwer?

Bei der Photovoltaik habe ich das Gefühl, dass die Politiker und die Bevölkerung nicht mitbekommen haben, wie günstig diese Energie ist. In den Köpfen vieler Leute sind Preise, die vor 20 Jahren aktuell waren. Es ist ähnlich wie bei den Wärmepumpen. Dabei hat sich einiges getan.

Solarzellen an einer Lärmschutzwand an der A1 bei Safenwil AG.
Solarzellen an einer Lärmschutzwand an der A1 bei Safenwil AG.
Archivbild: KEYSTONE

Das müssen Sie bitte erklären.

Im Vergleich zur Kernenergie ist Photovoltaik drei- bis viermal günstiger. Wer heute noch in Kernenergie investieren will, verschwendet Geld. Um das einzusehen, muss man nicht mal Umweltfreund sein: Man muss nur rechnen.

Und wie verhält es sich mit den Wärmepumpen?

Wer heute ein Haus baut und keine Wärmepumpe installiert, versteht nichts von Ökonomie: Eine Wärmepumpe ist bei Vollkostenrechnung heute einfach die günstigste Lösung. Wenn Sie ein Haus vermieten, sind die Investitionskosten für eine Ölheizung deutlich tiefer. Die kostet vielleicht 10'000 oder 20'000 Franken, während wir bei einer Wärmepumpe bei 80'000 Franken liegen. In der Vollkostenrechnung ist die teure Lösung langfristig gesehen aber günstiger, weil wir dann drei- bis sechsmal weniger Energie benötigen. Die Eigennutzerin muss aus ökonomischen Gründen auf eine Wärmepumpe setzen.

Umweltfreundlicher und langfristig günstiger: Installation einer Wärmepumpe am 14. Oktober 2021 in Zürich. 
Umweltfreundlicher und langfristig günstiger: Installation einer Wärmepumpe am 14. Oktober 2021 in Zürich. 
KEYSTONE

Aber warum machen das nicht alle?

Bei den Vermietern werden alle Nebenkosten, also das Öl und Gas, von den Mieten bezahlt. Es ist für Vermieter profitabler, eine günstige Ölheizung einzurichten und die teuren Nebenkosten durch die Mieter bezahlen zu lassen. Deshalb machen es noch viele solcher Besitzer so – weil das Anreiz-System falsch ist.

Und warum scheitert die Windkraft hierzulande?

Da gibt es meiner Meinung nach eine unglückliche Allianz: Extreme Naturschützer, die keine Windräder wollen, kooperieren mit jenen, die die Hoffnung hegen, dass wir wieder ein Atomkraftwerk bauen können, wenn wir keine Windenergie haben. Immer noch findet ein Drittel der Schweizer die Atomkraft fälschlicherweise kostengünstig.

Sie gehören augenscheinlich nicht dazu.

Ich weiss nicht, was die Motivation ist, ein Atomkraftwerk zu bauen. Atomenergie ist einfach drei- bis viermal teurer. Und das Problem mit dem Endlager haben wir auch noch nicht gelöst. Ich habe es mal ausgerechnet: Das Endlager wird uns ebenso viel kosten wie der Ersatz aller Atomkraftwerke durch Photovoltaik-Anlagen. Das müssen vor allem die Jungen zahlen: Der Schweizer schaut doch auf sein Portemonnaie. Wenn er sich davon leiten lässt, ist klar: Erneuerbare Energie ist die Zukunft. Zudem werden wir vom Ausland unabhängiger.