Wirtschaftsausblick 2023«Es gibt einen Abschwung, den wir spüren werden»
Von Monique Misteli
27.12.2022
1:50
Trotz höchstem Lohnzuwachs seit 20 Jahren kein Inflationsausgleich
Der Gewerkschaftsdachverband Travail.Suisse zieht ein durchzogenes Fazit der Lohnverhandlungen für das Jahr 2023. Die Lohnzuwächse vermögen im Schnitt die Preissteigerungen von 2022 nicht auszugleichen.
Wie hoch steigt die Inflation? Diese Frage hat das Wirtschaftsjahr 2022 geprägt. Was 2023 mit sich bringt und was das für dich bedeutet, hat blue News bei Chefökonom David Marmet nachgefragt.
Von Monique Misteli
27.12.2022, 06:32
27.12.2022, 08:32
Monique Misteli
Die Prognosen fürs Wirtschaftsjahr 2023 sind trüber als auch schon. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) rechnet damit, dass die Schweizer Wirtschaft im kommenden Jahr mit plus 1 Prozent unterdurchschnittlich wachsen wird, sofern die Energiemangellage im laufenden Winter ausbleibt.
Doch bevor du jetzt denkst:
Ach, weitere Bad News, und wegklickst ...
... blue News hat bei David Marmet, Chefökonom Schweiz der Zürcher Kantonalbank (ZKB), nachgefragt, was die Prognosen für dich bedeuten. Seine Einschätzungen sind nicht nur negativ.
blue News: Herr Marmet, die zentrale Frage in 2022 war: Wie hoch steigt die Inflation? Was wird die Schweizer Wirtschaft 2023 prägen?
David Marmet: Während bei unseren Nachbarn, also in der Eurozone, aber auch in den USA, die Frage der Rezession im Raum steht, wird für die Schweizer Wirtschaft entscheidend sein, wie stark und wie schnell die Inflation zurückgeht.
An der Inflationsentwicklung hängt die für mich zweite grosse Frage, die uns kommendes Jahr beschäftigen wird, eng zusammen. Nämlich, wie rasch sich die Kaufkraft der Bürger*innen normalisiert und nicht weiter abnimmt.
Warum stellt sich in der Schweiz die Frage der Rezession nicht?
Die Schweiz macht die Entwicklungen der Weltwirtschaft immer etwas gedämpfter mit. Gibt es global einen wirtschaftlichen Aufschwung, dann ist dieser in der Schweiz unterdurchschnittlich. Das funktioniert auch in die andere Richtung: Ist die Wirtschaft im Abschwung, dann fällt auch der Abschwung für die Schweizer Wirtschaft gedämpfter aus.
Rezession bedeutet ja ein negatives Wachstum, also, wenn die Wirtschaft schrumpft. In der Schweiz sprechen wir aber immer noch von einem positiven Wachstum, zwar von einem unterdurchschnittlichen, aber es ist immer noch ein Wachstum. Das dürfen wir nicht vergessen.
Die ZKB rechnet damit, dass im Januar die Inflation wieder auf über 3 Prozent ansteigt, ab Februar dann aber zurückgeht. Übers Jahr betrachtet, rechnen die ZKB-Ökonomen mit einer Inflationsrate von 2,2 Prozent.
Hinweis der Redaktion: zum Vergleich: 2018, 2019 und 2021 ist die Schweizer Wirtschaft um 3,8 Prozent, 1,1 Prozent und 4,2 Prozent gewachsen. Die grosse Ausnahme ist das Corona-Jahr 2020, als das Bruttoinlandprodukt um 2,4 Prozent gegenüber dem Vorjahr zurückging.
Zurück zur Inflation: Warum nimmt die Teuerung im Januar zu und ist dann bereits ab Februar wieder rückläufig?
Weil die Strompreise 2023 im Mittel um 27 Prozent steigen und ab Januar in den Konsumentenpreisindex einfliessen werden.
Hingegen sind die Erdöl- und Heizölpreise wieder gesunken, was sich dämpfend auf die Inflationsrate auswirken wird.
Dann bleibt wieder mehr Geld auf dem Bankkonto übrig als momentan?
Schön wär's, doch so einfach ist es nicht. Nehmen wir das Beispiel der Löhne. Diese sind im Vergleich zur Inflation weniger stark gestiegen. Deshalb bleibt am Ende weniger Geld.
Im Herbst haben in vereinzelten Branchen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände Lohnerhöhungen ausgehandelt, die wohl über der Inflationsrate von 2023 liegen. Doch in den meisten Branchen dürften die Löhne weniger als 2,2 Prozent steigen, weshalb die Inflation auch 2023 für die normalen Bürger*innen direkt negativ spürbar bleibt. Das Leben wird teurer.
Das heisst, wenn ich sparen will, dann bleibt mir nur der Verzicht?
Wenn ich mehr Geld sparen will als in den letzten Jahren, mein Lohn aber nicht deutlich zugenommen hat, dann ja, dann muss ich auf gewisse Dinge verzichten.
Die Nationalbank (SNB) versucht, die Inflation mit weiteren Zinsanhebungen einzudämmen. Müsste sie angesichts der Prognosen nicht forscher vorgehen?
Ein grösserer Zinsschritt als die zuletzt 50 Basispunkte wären drin gelegen. Weil die Effekte allerdings erst verzögert wirken, ist es auch verständlich, dass die SNB zurückhaltender agiert hat.
Ich gehe davon aus, dass der nächste Zinsschritt im März ebenfalls 50 Basispunkte sein wird und der Leitzins so auf 1,5 Prozent angehoben wird.
Was bedeuten die Zinserhöhungen für Mieter*innen und Eigentümer*innen?
Steigt der Leitzins, steigen prinzipiell auch die Hypothekarzinsen. Jetzt kommt es halt darauf an, welche Variante die Hausbesitzer gewählt haben: den variablen Saron-Satz oder die Festhypothek.
Mit der Saron-Hypothek wird es für die Eigentümer*innen unmittelbar teurer.
Auch für Mieter kann es unter Umständen teurer werden. Denn wenn der Referenzzinssatz um 25 Basispunkte steigt, hat der Vermieter oder die Vermieterin das Recht, 3 Prozent mehr für die Miete zu verlangen – sofern sie in der Vergangenheit die Zinssenkungen an die Vermieter weitergegeben haben.
Aber so oder so dürften die Mieten steigen – auch wegen steigender Nebenkosten.
Der Arbeitsmarkt ist auch ein Kernelement und wichtiger Indikator der Schweizer Wirtschaft. Dieses Jahr stand vor allem der Fachkräftemangel im Fokus. Was erwarten Sie fürs 2023?
Ja, der Fachkräftemangel wird sicher auch 2023 das dominierende Thema bleiben.
Man kann sich schon ein bisschen fragen, wohin all die Leute hingegangen sind. Wegen Corona konnte man erwarten, dass es mehr Arbeitslose geben wird.
Zumindest in der Theorie funktioniert es so: Geht's mit der Wirtschaft abwärts, gibt es höhere Arbeitslosenzahlen. Aber wie wir nun wissen, gingen die Arbeitslosenzahlen 2022 deutlich zurück.
Was läuft in der Praxis anders?
Wir bewegen uns in einer dynamischen Wirtschaft und einem mehrteiligen Arbeitsmarkt. Die Digitalisierung oder globale Phänomene wie der Klimawandel erfordern spezielle Fachleute, die nicht so schnell ausgebildet werden können, als dass sie gebraucht werden würden. Das führt zu dieser paradoxen Situation.
Haben Sie einen Rat, um die komplizierte Situation etwas zu entschärfen?
Die wohl wichtigste Ressource der Schweiz sind die Köpfe ihrer Menschen. Deshalb sollten wir uns stetig weiterbilden, flexibel bleiben und uns mit den grossen gesellschaftlichen Veränderungen befassen.
Nur als Beispiel: Die Leute werden immer älter. Vielleicht würde sich eine Weiterbildung in der Betreuung älterer Menschen langfristig lohnen.
Zusammengefasst heisst das fürs Wirtschaftsjahr 2023 ...
... es gibt einen Abschwung, den wir spüren werden. Die Industrie wird es wohl mehr treffen als den Dienstleistungssektor.
Die grosse Mehrheit wird es direkt im Portemonnaie spüren. Weil wir aber eine hohe Zuwanderung haben, wird die gesamtwirtschaftliche Nachfrage nicht einbrechen und die Schweiz wird wohl nicht in eine Rezession abgleiten.